Reise zu Lena
Mutter schleppte mich von Arzt zu Arzt, mit wenig Erfolg. Auch meine schulischen Leistungen fielen ab, was Vater in ziemliche Rage versetzte. Er erwartete von mir, stets als Klassenbeste abzuschneiden. Ich kam zu der Überzeugung, dass meine schulischen Leistungen das Einzige waren, was ihn an mir interessierte. Dass ich in der Zwischenzeit zu einem jungen Mädchen herangereift war, schien er nicht zu bemerken. Mutter nahm meine Entwicklung, wie alles, was unsere kleine Familie anging, mit sichtbarer Anteilnahme, aber vor allem mit Besorgnis zur Kenntnis. Sie schien in diesen Jahren schnell zu altern, ein Lachen, ja, ein Lächeln huschte selten über ihr Gesicht.
Vater schickte mich, als ich dreizehn wurde, auf eine andere Schule, wo er eine bessere, das heißt strengere Erziehung für mich erhoffte, obwohl ich Tränen vergoss, meine liebgewordenen Schulfreundinnen verlassen zu müssen. Doch in meiner neuen Schule entdeckte ich schon am ersten Tag ein Mädchen, das von einer Sekunde auf die andere meine große Liebe wurde. Ihr reizendes Profil, die langen, wunderschönen Haare, ihre zierliche Gestalt! Es war um mich geschehen. Bald konnte ich an nichts anderes mehr denken als an dieses Mädchen, das, wie ich mit klopfendem Herzen erfahren hatte, Glorie hieß. Nur mit Schwierigkeiten konnte ich dem Unterricht folgen, immer musste ich geradezu zwanghaft nach ihr Ausschau halten, die einige Bänke vor mir in einer anderen Reihe saß. Ich meinte einen Engel zu erblicken, ihr lieblicher Blick zeugte davon, dass sie kaum von dieser Welt sein konnte, so entrückt schien sie mir, wie auf sich selbst gestellt, unter einen höheren Schutz als wir anderen. Sie bewegte sich umringt von Freundinnen, auch Knaben, die alle um ihre Gunst zu buhlen schienen. Selbst die Lehrer konnten sich nicht ihrer Ausstrahlung entziehen.
Ich wusste nicht, wie ich mich ihr nähern konnte. Von Natur aus schon schüchtern, ergriff mich eine nie erlebte Unsicherheit. Die einfachsten Redewendungen fielen mir nicht mehr ein, andere wurden als unannehmbar in Sekundenschnelle verworfen. Meiner Leidenschaft wusste ich bald nichts mehr entgegenzusetzen. Die Tage verliefen wie in Trance, meine Gedanken kannten nur ein Ziel.
Die Liebe zu Glorie war wie ein unsägliches Leid für mich, zu sehr klafften in diesen Wochen Begehren und Ohnmacht auseinander.
Zu Hause versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen, aber ich war durch und durch krank, und diese Krankheit vermochte Mutter nicht zu erkennen. Ob gewollt oder nicht gewollt, Vaters Rechnung ging auf: Als heranwachsendes Mädchen war ich bereits eine Meisterin der Verstellung.
Endlich kam es zur Erlösung. Ich schlenderte in mich versunken den breiten Schulgang herunter, als eine Hand meine Rechte für einen Augenblick streifte. Es fühlte sich an wie ein Stromschlag: Glorie! Sie sprach einige Worte zu mir, so selbstverständlich, als wenn uns schon eine lange Bekanntschaft verbinden würde. Unfähig ihre kurze Rede aufzunehmen, wusste ich kaum irgendwelche Brocken zu formulieren. Gleichwohl, sie und ich waren von diesem Augenblick keine Fremden mehr, die grußlos aneinander vorbei gingen. Das allein zählte und das veränderte mein Leben von Grund auf.
Vater starb an Herzversagen. Er verließ uns von einer Stunde auf die andere, unerwartet, unvorbereitet. Immer hatte er sich gewehrt, zu einem Arzt zu gehen. , so pflegte er zu sagen. Nun konnte er nicht einmal mehr die Letzte Ölung lebend empfangen. Ob er sich dieses Makels am Ende seines Lebens noch bewusst war oder nicht, konnten wir nicht mehr erfahren. Er war am Ende eines Abendessens ohne Vorwarnung von seinem Stuhl zur Seite geglitten und mit dem Körper hart auf dem Boden aufgeschlagen. Dort lag er nun, lang ausgestreckt, ein letzter vorwurfsvoller Blick traf Mutter und mich, so, als ob wir für sein Unglück verantwortlich wären. Das war's. Wir wagten nicht einmal, ihm die Augenlider zu schließen. Das tat erst der herbeigerufene Hausarzt, ein Kamerad aus dem Kirchenchor, der uns half, Vater auf sein Bett im ehelichen Schlafzimmer zu tragen und ihm die letzte Ehre zu erweisen. Dem Arzt glänzten Tränen in den Augenwinkeln, als er sich von uns verabschiedete. Da erst wurde Mutter und mir bewusst, dass wir selbst in unserer Bestürzung und Verwirrung bisher keine Träne vergossen hatten. Ich sah auch Mutter in den nächsten Tagen nicht weinen und auch
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