Reise zu Lena
gibt, habe ich ihr verschwiegen. Aber was hatte ich Böses getan? Ich hatte ein winziges Mädchen, das ihre Eltern nicht wollten, mit der Erlaubnis meines Mannes bei mir aufgenommen. Als mein Kind, mein Einziges. Ich habe es von der ersten Stunde an geliebt, es war immer das Schönste, was ich hatte. Und später, als wir dann zu zweit waren, brach der Himmel für mich auf. Ich war grenzenlos glücklich, glücklich, wenn auch nur für kurze Zeit.«
Christie blickte Lena nachdenklich an, sie hatte sie selten so lange reden gehört. Sie rückte näher an sie heran auf dem Sofa, legte ihren Arm um sie und ihren Kopf an ihre Seite. Die beiden Frauen schauten wieder zu Albert hinüber, dessen Kopf sich nach vorne geneigt hatte, der jetzt tatsächlich eingeschlafen war.
»Am nächsten Tag, nach der ersten Nacht bei Glorie, versuchte ich so spät wie nur möglich nach Hause zu kommen. Nach dem Unterricht gab es glücklicherweise ein Fußballspiel mit Mädchen aus einer anderen Klasse. Danach saß ich noch ewig in einer kleinen Runde in einem Eiscafé. Als ich endlich unsere Wohnung betrat, war sie leer. Lena hatte einen Zettel hinterlassen mit dem Hinweis, mein Abendessen stehe auf dem Küchentisch. Sie ließe, so schrieb sie, mich allein, weil ich jetzt sicherlich Zeit für mich brauchen würde. Auch am nächsten Morgen stand mein Frühstück wie immer bereit, Lena blieb verschwunden. Auf Dauer konnte das Spiel so nicht weitergehen. Ich schrieb mit der energischsten Schrift, die mir zur Verfügung stand, auf einen Zettel, den ich auf den Küchentisch legte:
Wo bist Du?
Am Nachmittag waren wir wieder zusammen, nickten uns kurz zu und behandelten uns so, als wenn nichts geschehen wäre. Aber eine unsichtbare Distanz blieb von da an. Ich dachte Tag und Nacht nach: Wollte ich eigentlich diese Person, die sich als meine Mutter ausgab, sehen oder nicht? Die anfängliche tiefe Abneigung einem möglichen Treffen gegenüber wich mehr und mehr der Neugier: Wer war sie? Wie sah sie aus? Wie würde sie mir begegnen? Mit jeder Stunde, jedem Tag, verwandelte sich das tief getroffene Mädchen weiter in ein aufgebrachtes, empörtes Weibsstück. Mein Selbstbewusstsein wuchs ins Unermessliche.
Nicht sie, nein ich hatte alle Trümpfe in der Hand! Sie sollte sich vor mir nur in Acht nehmen. Ich sah mich bereits als rachsüchtige Bestie über die zweifelhafte, schuldbeladene Person herfallen. So fragte ich eines Nachmittags Lena:
>Wo ist sie?<
Sie sah mich wie so oft in diesen Tagen ahnungsvoll an:
>Sie setzt mir nach wie vor zu, verfolgt mich auf der Straße, sie lässt nicht nach. Du kannst sie sehen, wenn Du . . .<
Lena schaute zum Fenster hinaus auf die Straße, deutete mit ausgestrecktem Finger auf eine Frau, die auf dem gegenüberliegenden Gehsteig stand und zu unserer Wohnung heraufschaute. Eine große Frau, knochig, geradezu hager, mit markanten Zügen, herausfordernd und mit einer wirren, hellen Haarmähne, in ihrer äußeren Erscheinung ganz das Gegenteil von Lena. Eine Erscheinung, die aufs Erste alles andere als erfreulich wirkte, eher abstoßend, ordinär, gewöhnlich. Eines war sicher, jetzt schon und auf die Entfernung: Ich hatte mit Lena, daran bestand kein Zweifel, das bessere Los gezogen. Ich sagte mit der liebenswürdigsten Stimme, zu der ich in jenen Tagen fähig war, zu der neben mir stehenden Lena:
>Mutter, wenn Du so lieb sein könntest und der Person dort unten mitteilen, dass ich bereit bin, mich mit ihr zu treffen. Nicht hier in der Wohnung, das auf keinen Fall! In einem Café vielleicht oder in einem Restaurant, an einem Ort, wo ich jederzeit wieder gehen kann. Morgen um diese Zeit. Eine halbe Stunde oder so. Mehr Zeit wird nicht nötig sein. Das sind meine Bedingungen. Wenn die Person das nicht akzeptiert, kommt es eben zu keinem Treffen. Mir auch recht. Wenn sie mir auf der Straße nachsetzen sollte, bekommt sie einen Fußtritt, auch kein Problem. Ich habe im Sport eine Eins und werde auf alle Fälle mit so einer fertig.<
In meiner Klasse gab es einen großen, kräftigen Jungen, der ein, zwei Jahre älter als ich war und der mich schon seit Monaten anhimmelte. Als ich Thomas, so sein Name, am nächsten Tag fragte, ob er mich am Nachmittag in ein Café begleiten möchte, war seine Begeisterung natürlich groß. Er sollte sich an einen anderen Tisch setzen, in einer gewissen Entfernung, aber mit gutem Blick dorthin, wo ich sitzen würde. Auf einen Wink von mir sollte er dann an meinem Tisch erscheinen,
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