Reise zu Lena
Frau, diese Person dran, wie es gerade gefällt. Sage dieser Frau, dass sie ihre Rechnung ohne mich gemacht hat und sie mit ihrer so plötzlich erwachten Mutterliebe wieder dorthin verschwinden soll, wo sie hergekommen ist: Sie soll sich zum Teufel scheren! Was immer Ihr miteinander ausgemacht habt, macht Euren Handel ohne mich. Und lasst mich bloß in Frieden, ich habe damit nichts zu tun! Und wenn Du damit nicht einverstanden bist, dann verschwinde ich von hier und Du siehst mich nie mehr wieder!<
Um meinem Zorn zusätzliche Geltung zu verschaffen, warf ich die Tür zu ihrem Schlafzimmer so fest zu, wie ich konnte, rannte voller Wut aus der Wohnung, ließ Schulaufgaben Schulaufgaben sein und marschierte, ohne an irgendetwas denken zu können, die wenigen Häuserblocks entlang, die uns damals nur von Glories Wohnung trennten, um mit ihr einen fröhlichen Nachmittag und Abend zu verbringen. Ich verlor nicht ein Wort über den Vorfall. Ich blieb auch die Nacht dort, das erste Mal, dass ich mit Glorie ihr breites Bett teilte. Ich trug ein Nachthemd von ihr und wir hielten uns beim Einschlafen die Hände.
Ein kurzes, kühles Telefongespräch mit Mutter. Es war die Nacht, in der ich in wilder Wut aus Glories Familie meine eigene Familie machte. Glorie wurde zu meiner Schwester, Ann, die keine Geheimnisse mit sich herumzuführen schien und die sich bei jeder Gelegenheit klar und deutlich äußern konnte, zu meiner Mutter, Albert, der Kavalier der alten Schule, zu meinem Vater; sie wurden meine Eltern, ohne dass sie es je selbst erfahren haben.
Schon am nächsten Morgen kam die Reue. Wie schändlich hatte ich Lena behandelt! Ohne auch nur im Geringsten auf ihre offensichtliche Verzweiflung Rücksicht zu nehmen, hatte ich sie in meinem Zorn zur Komplizin dieser fremden Person gemacht. Ich gestand mir ein, dass ich unrecht gehandelt hatte, wusste mir aber in meiner grenzenlosen Verwirrung nicht zu helfen.«
Albert hatte seine Augen geschlossen, er schien zu schlafen. Die beiden Frauen sahen ihn an. Kein Geräusch weit und breit, obwohl sich draußen die Zweige im Wind auf und nieder hoben. Die Sonne schien mild, es war ein schöner Tag.
»Nein, Christie, ich habe nicht geschlafen, ich habe Dir aufmerksam zugehört. Ich bin erschüttert: Wie ahnungslos ich doch sein konnte!
Wie konnte ich nur Deine Verzweiflung nicht erkennen?«
Er blickte müde zu Christie hinüber. Sie lachte:
»Du unterschätzt die Raffinesse der jungen Mädchen. Ich sagte doch bereits, dass ich mich auf die Verstellungskunst spezialisiert habe. Und außerdem: Du warst meine einzige Hoffnung, mein Wunschvater, nicht der Vater, der mich gezeugt hat, nicht mein Vater, der mich erzogen hat. Und aus diesem Grund sitzen wir heute hier und ich erzähle das alles!«
»Ich erinnere mich noch genau an diesen Abend, als Du das erste Mal bei uns bleiben durftest, Deine Mutter, mit der auch Ann am Telefon sprach, Dir erlaubte, bei uns zu übernachten. Es war in der Tat ein besonderer Abend für Ann und mich. Was Du nicht wissen konntest: Du warst, so selbstverständlich wie Du bei uns am Tisch gesessen bist, so herzlich willkommen bei uns. Ann konnte nach Glorie kein weiteres Kind zur Welt bringen, so sehr wir uns noch ein Schwesterchen oder Bruder für Glorie gewünscht hätten. Wir haben uns unangenehme Untersuchungen gefallen lassen müssen, leider ohne Erfolg. Wir mussten uns damit abfinden. Von dieser ersten Nacht an, in der Du bei uns schliefst, kamst Du uns nahe. Denk an die vielen Konzerte, die Theaterabende, zu denen Du uns seither begleitet hast. Die gemeinsamen Ferienreisen, auch als Glorie das erste Mal von ihrer Schwermut heimgesucht wurde. Wir nahmen es am Anfang ja noch auf die leichte Schulter. Erinnerst Du Dich an die Berge vom Wallis? Die weiten Bergtouren, die wir zu dritt unternommen haben, Ann war es zu anstrengend. Zuerst ich voran, später ich hinterher, Ihr mit Euren wippenden Röcken. Damals gingen Mädchen noch nicht in Hosen.«
Ermattet legte er sich tief in seinen Sessel, schaute gedankenverloren zum Fenster hinaus, wo es inzwischen Nacht geworden war. Wieder entstand Schweigen, das Lena mit leiser Stimme durchbrach:
»An dem Abend, nachdem Christie die Wahrheit über ihre leiblichen Eltern erfahren hatte und mich dann Glories Mutter anrief, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Jetzt würde Christie sich von mir abwenden, mich verlassen, für immer. Ich hatte sie angelogen. Die wichtigste Wahrheit, die es für ein Kind
Weitere Kostenlose Bücher