Reise zu Lena
etwas besser zu gehen, sie nahm sich jedenfalls zusammen, um uns nicht weitere Sorgen zu bereiten. Doch das Unheil nahm seinen Lauf.
Die Diagnose des Kantonalarztes aus dem Wallis stellte sich als ein fundamentales Fehlurteil heraus. Glorie, deren Gesundheitszustand sich weiter verschlimmerte, wurde in der Folgezeit von verschiedenen Kapazitäten untersucht. Das Urteil lautete Depression. Und zwar eine schwerwiegende, ererbte Depression. Zwischen Ann und Vater Albert gab es eine lange Diskussion, von welcher Linie in der Familie diese Krankheit kommen konnte. Gab es nicht schon Anzeichen bei Albert? Seine melancholischen Zustände beim Erwachen, seine gelegentlichen, aber unübersehbaren seelischen Tiefpunkte im Urlaub! Das war doch nicht, wenn man in dieser ernsten Situation fair und ehrlich dem armen Kind gegenüber sein wollte, zu leugnen. Wie sah es mit seinen Eltern und Großeltern aus? Gab es da nicht etwas, das auf eine depressive Veranlagung hindeuten hätte können? In Anns Familie andererseits war nichts dergleichen auszumachen, da brauchte man sich keine Vorwürfe zu machen, obwohl von einer Schuld an sich natürlich nicht die Rede sein konnte. Glorie empörte sich deswegen über Ann, von der sie meinte, sie habe diese >Ahnenforschung< losgetreten. Wenn das >Geschwätz< nicht sofort aufhöre, werde sie mit mir zu Mutter Lena ziehen, die sie in letzter Zeit immer sehr verständnisvoll behandelt habe. Glories Attacken zeigten ihre Wirkung, sie wurde in Ruhe gelassen, auch die Details der ärztlichen Befunde zogen an ihr vorbei, Gott sei Dank. Sie wollte auch nichts mehr davon wissen.
Dann trat ein Mann, den alle nur Erwin nannten, in Glories Leben.
Ein bekannter Psychoanalytiker, den Albert als seinen Freund vorstellte. Um es ihr zu erleichtern, war Erwin bereit gewesen, Glorie zu Hause zu besuchen, eine Ausnahme. Und irgendwie fanden die beiden zusammen. Glorie gab ihre anfängliche Zurückhaltung auf und fand, wenigstens eine Zeitlang, Gefallen an den >Sitzungen<, wie die wöchentlichen Treffen genannt wurden.
Glorie berichtete mir kichernd von den Gesprächen und wie sie den >netten älteren Herrn< auf die Probe stellen würde. So hätte sie ihm ihre geheimsten sexuellen Gelüste gebeichtet, Glorie hatte mit ihrer ausschweifenden Phantasie, die sie gerade in den letzten Jahren enorm entwickelt hatte, ihm einiges zu bieten. Dem armen Psychoanalytiker muss es ganz schön heiß geworden sein, wie sie ihm >ordentlich Zucker zu futtern< gab. Das ihre Worte. Doch hielt ihr Interesse an den Sitzungen nicht lange an oder sie hatte einfach das Interesse an Erwin verloren. Sie berichtete mir gelangweilt, er habe ihr nichts mehr zu bieten. Sie sei die ewigen Wiederholungen leid.
Wir waren nun siebzehn Jahre alt, aber immer noch wie zwei große Mädchen. Nach dem, was jede von uns erlebt hatte, wollten wir nicht erwachsen werden. Dabei überragten wir Ann fast um Kopflänge, Vater Albert auch um ein paar Zentimeter. Glorie hatte ihre Krankheit, ihr immer so schicksalhaft wiederkehrendes Verschwinden ins Niemandsland noch schöner gemacht, als sie ohnedies war. Ihr Gesicht erschien mir manchmal wie durchsichtig.
Die Leute auf der Straße blieben stehen, wenn sie vorbeiging, ich hörte Wortfetzen wie >Engel<, >Schönheit<, >Prinzessin< und dergleichen mehr. Zu Hause lachten wir darüber, obwohl mir klar war, dass die äußere Welt mehr und mehr an ihr vorbeirauschte. In der Schule hatte sich ihre Schwermut längst herumgesprochen, immer häufiger war sie bedingt durch die immer wieder auftretenden Krankheitsschübe dem Unterricht ferngeblieben. Doch keiner näherte sich ihr mit dummen Bemerkungen. Ganz im Gegenteil. Sie genoss bei allen hohes Ansehen, ja Bewunderung.
Jeder in der Klasse zeigte sich freundlich, geradezu liebevoll. Die Lehrer drückten nicht selten bei den Benotungen ein Auge zu. Ich dagegen musste doppelt pauken. Wenn sie nicht am Unterricht teilnehmen konnte oder den Unterricht achtlos an sich vorüberziehen ließ, musste ich mit ihr das Versäumte in Abendstunden oder an Wochenenden nachholen. Ich war, ohne mir darüber bewusst zu werden und ohne Plan, in die Rolle ihrer Behüterin geschlüpft und glücklich mit meiner neuen Aufgabe. So war es leicht, meine Erlebnisse in den Hintergrund zu drängen.
Glories Krankheit verschlimmerte sich. Albert hatte mich gebeten, ihn zu einem bekannten Psychiater zu begleiten. Der Professor erklärte uns in diesem Gespräch eindringlich, in welchem Maße
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