Reise zu Lena
Rivalin, nicht Christie, das ist nun Gewissheit. So schmerzlich die Erkenntnis ist, ich muss der Wahrheit ins Auge sehen. Lena scheint einfach gestrickt, aber dabei raffiniert? An ihr muss ich mich messen. Wenn ich sie meide oder gar hasse, habe ich verloren. Ich muss ihrer habhaft werden, sie um ein Treffen bitten. Nur wir beiden Frauen. Ich hoffe sehr, sie will mich sehen.«
IV.
Der alte Mann umfasst mit seiner Linken fest ihre Hand, während er den rechten Arm um ihren Rücken schmiegt und das Bein zum ersten Schritt nach vorne hebt. Seine Haltung ist aufrecht, den Kopf hat er nach oben gewandt, er trägt ein jungenhaftes Lächeln auf seinen Lippen, er strahlt Konzentration und große Ruhe aus. Das Zittern der Hände ist verschwunden. Sie ist um einen Kopf kleiner als er, er kann ihren gerade gezogenen Scheitel deutlich unter seinen Augen wahrnehmen, der sie von oben in zwei Hälften teilt. Ihr Körper, den sie so oft behäbig mit sich führt, erscheint ihm leicht und beweglich, als sie die ersten Schritte mit ihm vollzieht. Sie lässt sich wunderbar leicht führen. Sie sind ein perfektes Paar von Anfang an, das denkt er, das fühlt er, da besteht kein Zweifel. Er zieht sie näher an sich heran und spürt die Wärme ihres Körpers durch ihr dünnes, weit herunterfallendes Kleid, so als wenn sie nichts darunter tragen würde.
Die Musik, die ihre Töchter einmal von einer Reise in ferne Länder mitbrachten, hat sie nicht auf ihren Plätzen gelassen. Albert springt auf und Lena, als ob sie seine Absicht erahnt hätte, ist an seiner Seite, wie ein junges Mädchen. Die Stimme der Sängerin schlägt sie in ihren Bann, voller Sehnsucht, voller Begehren. Albert hebt seine Linke nach oben soweit ihr Arm reicht, der jetzt ausgestreckt neben seinem sich reckt, sie schiebt sich näher an ihn heran und beide schreiten, drehen sich, wirbeln eng umschlungen durch den Raum. Es ist, als schwebten sie, während es immer wieder hallt:
»Que mos travers, caminos es camino pasando me.
Sodar, sodar, sodar.«
Die Musik nimmt kein Ende, endlich senken sich Lenas Arme und sie drückt den erschöpften Albert noch im Tanzschritt auf seinen Sessel. Durch den Schwung der Bewegung verliert sie ihr Gleichgewicht und folgt mit einem schrillen Ton des Entzückens ihm nach und fällt auf seinen Schoß. Beide, erhitzt und beglückt, können ein befreiendes Lachen nicht halten, bis sie nach Atem ringend ihren Kopf auf seine Schultern bettet, während Albert ausstößt:
»Das ist eine Geheimsprache: Sehnsucht . . . Sehnsucht . . . Sehnsucht nach meinem Santa Nicolau . . . Sehnsucht . . . Sehnsucht . . . Sehnsucht nach Santa Nicolau.«
»Und wie geht es weiter?«
»Wenn ich schreibe, schreibe ich, wenn ich vergesse, vergesse ich, bis zu dem Tag, wo ich wiederkehre, Sehnsucht . . . Sehnsucht . . . Sehnsucht nach meinem Santa Nicolau.«
»Ist das eine Geheimsprache?«
»Jedenfalls kein Spanisch und kein Portugiesisch. Die gewichtige Frau, die auf der Bühne mit erstarrtem Körper stand und sang, so erzählte Christie, sie sehne sich . . .«
»Sehne sich nach was . . .?«
»Nach einer Insel in den Kapverden, auf die kaum ein Fremder je seinen Fuß gesetzt hat.«
Glücklich lauschen sie der Musik. Als Albert sie sanft von seinem Schoß schiebt, fallen sie sich erneut in die Arme und ihre Beine finden in den Takt der Musik zurück. Mit verklärtem Gesicht sieht Lena zu ihm auf:
»Du bist ein traumhafter Tänzer! Wer hätte das gedacht!«
»Es ist wie damals, damals, als ich die Copacabana herunter tanzte, von oben nach unten . . . die ganze Copacabana!«
»Du bist die Copacabana herunter getanzt?! Die ganze Copacabana?«
»Natürlich bin ich die ganze Copacabana herunter getanzt. Natürlich . . . immer wieder . . . immer . . .«
Lena hebt ihren Kopf und sieht ihn ungläubig an: »Immer wieder?«
Albert fällt in Schweigen, endlich:
»Natürlich war es so. Glaubst Du mir etwa nicht? Ihr ungläubigen Weiber . . .«
»Ich glaube Dir alles, Albert.«
Wieder denkt er nach. Nun stehen sie still:
»Lass mich überlegen. Jetzt fällt es mir genau ein: Natürlich, wie ich sage . . . Aber nicht nur die Realität existiert, auch die Phantasie! Ich habe es geträumt, hundertmal. Es waren die Jahre, als meine Träume die Wirklichkeit waren.«
»Und was ist heute?«
»Heute bist Du meine Wirklichkeit. Aber ich weiß nicht, ob Du ein Traum oder Wirklichkeit bist. Weißt Du es, Lena? Vielleicht magst Du einem alten Mann helfen?«
»Nein, Albert,
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