Reise zum Rand des Universums (German Edition)
war nun erlaubt, und umgekehrt. Ich musste die Milchhaut auf dem Kakao nicht mehr mit verschlingen und durfte meinen Stoffneger mitessen lassen. Dafür aber wollte Lotti, dass ich allein aufs Klo ging, etwas, was ich bis dahin noch nie erwogen hatte. Sie brachte mich auch zu Bett, und es kann sein, dass sie mir sogar eine Gutenachtgeschichte erzählte. Rumpelstilzchen vielleicht, denn ich hatte eine Schwäche für den Zwerg mit dem geheimen Namen, der Kinder raubte. Lotti erklärte mir, wo alle meine Lieben hin verschwunden waren: Mama in ein Spital, wo sie von ihrer Traurigkeit geheilt wurde. Papa an die Landesgrenze, wo er die Deutschen mit seinem Gewehr daran hinderte, uns unser Haus wegzunehmen. Simone in ihren Bauernhof, wo die Kühe jemanden brauchten, der sie molk. Und Nora, ja, Nora durfte eine Weile bei Norina sein. (Diese lebte nun mit Hä irgendwo in der Stadt.) Nora durfte zu Norina, nicht ich, denn sie war ja noch ein Baby und ich ein Großer und Starker und Tapferer. Wir drei – Lotti, Heiri und ich – würden es prima haben zusammen. »Gell, Lötschi!« – »Ich heiße nicht Lötschi«, heulte ich auf und stürzte aus der Küche. »Ich weiß, Uti«, sagte Lotti, die mir nachkam. »Und jetzt marsch ins Bett.«
Heiri zimmerte währenddessen aus hellem Tannenholz eine lange Truhe, die wie ein Sarg aussah. Ich erriet nicht, für wen er bestimmt war. Für ein Kind war er zu groß. Für die Mutter vielleicht, wenn’s ihr doch so schlechtging? Oder Papa? Heiri bemalte ihn kunstvoll – malen konnte er wirklich! –, und ich sah bewundernd auf seinen Pinsel, der wieselflink übers Holz huschte. Heiri pfiff fröhlich vor sich hin, wenn er ihn in ein neues Blau oder Ocker tauchte. Am Sargschmuck mithelfen durfte ich nicht, aber ich kriegte ein eigenes Brettchen und einen Pinsel für mich allein. Ich malte genau wie Heiri, ich pfiff auch, wenn ich den Pinsel in die Farbe tunkte. Ich malte eine Mama und einen Papa und eine Norina und eine Simone – Nora vergaß ich –, alle ohne Hände und Füße. Dafür hatten sie weit aufgerissene Augen. Heiri malte eine in einer paradiesischen Landschaft gestrandete Arche. Da lag sie auf Grund, weil das Wasser abgeflossen war, inmitten von Klatschmohn und Enzianen. Ein Noah mit einem langen weißen Bart hockte im Heck und fischte in dem grünen Gras, in dem die zwei Hasen der Arche herumhüpften, ohne sich um den Haken zu kümmern, an dem sich einer der Würmer krümmte. Wo war der andere? Zwei Elefanten gab es jedenfalls, zwei Giraffen, zwei Nilpferde, zwei Krokodile. Die Störche standen auf einem Bein, die Eulen saßen in einer Palme. Im Himmel oben flog mein Vater – unverkennbar! –, der eine Kaffeekanne in der Hand hielt und kleine Flügel auf dem Rücken hatte. War er ein Engel? Jedenfalls rauchte er auch hier. – Eine Mutter malte Heiri nicht. Es kann sein, dass er sich ihrer dunklen Schönheit nicht gewachsen fühlte. Denn die Frauen, die er schön malen wollte, gerieten ihm immer zu vollbusigen Blondinen mit Kussmündern. Sie sahen stets ein bisschen wie Lotti aus, nur dass Lotti keine Schlafzimmeraugen mit langen Wimpern hatte. Um den schwarzen Ernst meiner Mutter auf eine Leinwand oder einen Truhendeckel zu bannen, hätte es eines Leonardos bedurft. – Die Truhe steht heute noch im Korridor unseres Hauses im Elsass. Unser Bettzeug ist darin. Die Farben sind so blass geworden, dass die eine Giraffe ganz verschwunden und die andere kaum mehr zu sehen ist. Auch die Elefanten sind nur noch ein Hauch aus grauer Farbe, und mein fliegender Vater ist so sehr ein Schatten geworden, dass ich ihn eher errate als sehe. Nur Noah sitzt immer noch leuchtend im Heck seiner ebenfalls schier unsichtbar gewordenen Arche. Sein Bart ist weiß wie am ersten Tag.
DER Vater kam bald wieder ins Haus zurück. Aber mindestens Lotti blieb bei uns. Oder kam sie jeden Morgen früh und ging nach dem Nachtessen wieder? Der Vater musste ja zur Arbeit, und ein Koch war er nicht. Mit ihm gab es nur Emmentaler und Brot. Immer. Brot und Emmentaler und manchmal Erdbeermarmelade, die er auf den Käse schmierte. – Bald gingen wir meine Mutter besuchen. Ihr Spital war in Münchenbuchsee in der Nähe von Bern. Ich vermische meine Erinnerung an diese Fahrt mit einer andern, die uns ebenfalls nach Bern führte und erst zwei, drei Jahre später stattgefunden haben dürfte. Als ob eine verhängnisvolle Reise nicht genügte. Bei einer dieser Eisenbahnfahrten, der ersten wohl, leuchtete kurz vor
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