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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Bern tief unter uns die Aare so blau, wie ich sie später nie mehr gesehen habe. Obwohl ich nie versäume, den Blick von damals zu wiederholen, wenn ich über die Brücke dem Bahnhof von Bern entgegenrolle. Das Wasser der Aare war blau wie in der Südsee. Köpfe von Schwimmern, es war Hochsommer. Der Zug fuhr im Schritttempo, als wolle er die Ankunft im fatalen Bern noch ein bisschen hinauszögern, so dass ich alle Zeit der Welt hatte, das Spektakel zu betrachten. Auch der Vater staunte.
    Die Erinnerung ans Hospital – eine große psychiatrische Klinik – ist wie mit einem Weichzeichner gemalt in mir aufbewahrt. Kein Ton. Sanfte Farben. Ich gehe oder stehe mit meinem Papa in einem Garten oder Park, in dem einzelne Menschen langsam und ziellos wandeln, wie in einem Traum. Eine Krankenschwester da und dort, etwas schneller unterwegs. Gab es tatsächlich Pfauen? Irgendetwas Exotisches war da jedenfalls, besondere Bäume vielleicht, oder großblättrige Blumen. Auf einer sanft abfallenden Rasenbahn kam meine Mutter angeschwebt. Sie lächelte. Ein Sommerkleid, eine hochgesteckte Frisur. War sie barfuß? Jedenfalls stand sie bald so durchsichtig bei uns, dass ich nicht wagte, sie zu umarmen. Meinem Papa ging es, glaube ich, gleich. Die Mama strich mir mit einer Hand über den Kopf. Die beiden gingen dann langsam im Gras oder auf einem Kiesweg auf und ab. Vielleicht rannte ich ein paar Mal um ein Rhododendrongebüsch herum oder scheuchte die Pfauen auf, die, kann sein, Tauben waren. Kriegte ich ein Glas Sirup oder gar eine Orangina? Dann sagte meine Mutter, dass sie gehen müsse, oder wir müssten jetzt gehen. Ich hörte immer noch nichts. Mein Vater umarmte sie nun doch. Die Mutter, die vergaß, auch mich zu umarmen, schwebte davon. Ich hob die Hand und winkte.
    Vielleicht gingen wir nicht gleich danach zu einem Doktor für verrückte Kinder. Es war wohl später, aber es war gewiss in Bern. Es gab in Basel vielleicht gar keine Ärzte, die Kinder von dem heilten, was ich getan hatte. Die Vorgeschichte war so: Onkel Erwin hatte sich bei meinem Vater beschwert, dass ich ihm die Zunge herausgestreckt hatte. »Er spinnt!«, rief er. »Du musst ihn untersuchen lassen.« Ich hatte ihm die Zunge herausgestreckt, und es war schon möglich, dass ich verrückt war. Das hielt ich für durchaus denkbar. Schließlich hatten Erwin und ich ja unsere gemeinsamen Geburtstage und jene magische Verbindung im Guten wie im Schlechten, und er, Erwin, war gewiss verrückt. Mein Vater sagte es immer wieder. »Der hat einen Knall, der Erwin.« – Der Doktor für verrückte Kinder war ein älterer Herr in einem weißen Mantel. Er lächelte mich an. Er schickte den Vater aus dem Zimmer – ich war sicher, dass ich nun auch ihn für immer verloren hatte – und ließ mich Bauklötze aufeinanderbauen. Auch zeichnete ich. Er stellte mir Fragen, und ich gab ihm Antworten, keine Ahnung, welche. Er legte mir Papierbögen mit Farbklecksen darauf vor, und ich musste ihm sagen, was ich sah. Ich sah einen Schmetterling, eine tote Mutter, einen Wolf, der ein Kind fraß. – Dann war der Vater wieder da, und wir gingen Hand in Hand durch die Lauben von Bern. »Alles bestens«, sagte er, aber ich hielt seine Hand dennoch so fest, dass er sie nicht loslassen konnte. »Erwin ist ein Rindvieh.« – Wir aßen auf einer Terrasse hoch über der Aare ein Eis, beide je eine Kugel Erdbeer und Zitrone. – Das tue ich heute noch, wenn ich eine Erleichterung zu feiern habe oder mich sonstwie nach Liebe sehne. – Erdbeer, Zitrone. – May, gleich nachdem wir uns lieben gelernt hatten, sah sich – sie studierte Psychologie und war kurz vor dem Ende ihres Studiums – meine Rorschach-Test-Resultate an. Wir saßen im Garten meiner Eltern, und mein älter gewordener Vater hatte die Farbtafeln und ärztlichen Deutungen irgendwo aus seinen Schubladen hervorgekramt. May schaute ernst. Ich schaute, wie sie schaute. Dann legte sie die Papiere auf den Tisch und lächelte. Sie sagte nichts. Aber sie heiratete mich dann doch.
    ICH entwickelte jede Menge Ticks. Nachts, wenn ich schlief, schlug ich mit der rechten Hand gegen meinen Kopf, in einem stetigen Rhythmus. Ein Larghetto, allenfalls ein Adagio. Es war mehr oder weniger der Rhythmus meines Herzens. Sechzig oder siebzig Mal pro Minute hieb ich mir auf meine Stirn. Mit der Zeit, um mein Hirn zu retten, schaffte es mein Arm, haarscharf am Schädel vorbei zu schlagen. Die Hand streifte ihn gerade noch, traf ihn nicht mehr voll

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