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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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fahren wie ich, und so kamen wir immer aneinander vorbei. Millimeterarbeit, hochkonzentriert. Ein grüßender Griff an den Rand der Mütze, wenn wir auf gleicher Höhe waren.
    DANN kam auch meine Mutter zurück. Alles war wieder wie zuvor. Als sei nichts geschehen. Keiner erwähnte auch nur mit einem Wort, dass etwas Ungewöhnliches hinter uns lag. Die Mutter tat wieder meinen Kakao in die Tasse, in die er gehörte. Der Vater war bester Laune und machte seine Scherze. Auch Nora war zurück, wohlgenährt und heiter krähend. Ich genoss das Leben auf der Stelle wie zuvor. Ich vergaß, dass meine Mutter krank gewesen war. Jetzt jedenfalls war sie gesund, das sah ich. Sie stand sogar früher auf und war eine noch sorgfältigere Hausfrau. Sie war ernst, das schon, aber sie platzte vor Energie. Sie ging nicht mehr, sie rannte. Putzte, plättete, räumte auf. Es gab nichts, was einfach so herumlag. Eine Haarbürste etwa oder die Handschuhe. Alles hatte seinen Ort, nur den Schreibtisch des Vaters rührte sie nicht an. (Ein Papierchaos, in dem sich mein Vater genau auskannte.) Die Bauklötze oder der Brummkreisel mussten im Schrank verschwinden, wenn ich auch nur für fünf Minuten nicht mit ihnen spielte. »Aber ich will doch nach dem Essen weiterspielen« – das war kein Argument. – Meine Mutter war so kraftvoll, so gesund, dass sie im Alter sagte: Mich muss man dann einmal totschlagen. (Sie tat es schließlich selber, das Totschlagen.) Sie kriegte ein langes Leben lang kaum je eine Grippe, und als sie einmal vom Küchentisch fiel – sie hatte, auf den Zehenspitzen stehend, eine Glühlampe auswechseln wollen – und sich den Arm brach, rief sie nicht um Hilfe, sondern hockte auf dem Boden und sah den Arm an. So fand ich sie, zufällig; sie lachte und zeigte mir, wie absurd abgewinkelt ihr Arm an ihr hing. – Ihr Problem blieb die kranke Seele. Sie ging, auch das ein Leben lang, immer wieder einmal in eine psychiatrische Klinik, die sie nie so nannte. Sie sagte Sanatorium. Sie lieferte sich selber ein, nach Monaten des geheimen Ringens, bei dem wir andern trotzdem die Symptome erkannten. Ihr zunehmend starres Gesicht, ihr Nicht-Zuhören, ihr unbegründbares Erschrecken (die Hausklingel, das Telefon), ihr immer häufigeres Debattieren mit Luftgeistern, die vielleicht alle ihr toter Vater waren. Sie ging jedes Mal in eine andere Klinik. Sommerhalde, Sommerweid, Sommerau. – Ich wollte auch, dass sie gesund war. Ich war selber gesund, deutlich und sichtbar. Wir waren alle gesund, was denn sonst. Ich hielt so sehr an ihrem Gesundsein fest, dass ich es bald selber glaubte und sogar, als ich längst erwachsen und meine Mutter wieder einmal in einer Klinik war, in der Psychiatrischen Universitätsklinik in Basel diesmal, mit dem behandelnden Arzt, Professor Kielholz, ein erregtes Streitgespräch führte. Nämlich, er solle damit aufhören, meine Mutter mit Medikamenten vollzupumpen – in der Tat ging sie wie eine Somnambule durch die Flure –, und sie in die freie Welt entlassen. Sie sei längst geheilt, und genau seine Psychohämmer machten sie so krank. Professor Kielholz – er leitete die Klinik und war eine Kapazität in seinem Fach – erklärte mir geduldig, was eine endogene Depression sei – seine Diagnose –, und dass meine Mutter ohne Medikamente das Leben nicht aushalte. Natürlich hatte er recht, endogen oder nicht. Sie hielt ja später das Leben sogar mit Medikamenten nicht aus.
    DIE Mutter kochte jeden Mittag eine warme Mahlzeit. Der Vater kam aus der Stadt zu uns auf den Hügel des Bruderholzes hoch und hatte etwa eine halbe Stunde lang Zeit, bis er wieder aufbrechen musste. Trotzdem erwogen weder er noch meine Mutter jemals, dass er ja auch auf einer Bank am Rheinufer oder, wenn’s regnete, im Café Münsterberg ein Sandwich essen könnte, gemütlich und entspannt. Das war außerhalb jeder Vorstellungskraft, weil zu der Zeit alle Hausfrauen ein Mittagessen kochten, zu dem alle Männer nach Hause kamen. Die Kinder sowieso. – Am Abend kochte die Mutter wieder, erneut eine ganze Mahlzeit. Nie gab es nur ein Butterbrot oder so etwas, einmal abgesehen davon, dass Butter eine seltene Kostbarkeit war. Sie war so selten, dass ich behauptete, ich möge Butter gar nicht, und ganz auf sie verzichtete. (Dasselbe tat ich mit den Butterzöpfen der Bäckerei Jakob, die mein Vater und Nora über alles liebten. Jeden Samstag brach mein Vater zur Bäckerei Jakob in der Steinenvorstadt auf, bald mit Nora und mir im

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