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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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bei jedem Schlag. Manchmal weckte mich auch meine Mutter und schaute entsetzt oder streng auf mich nieder. Dann ließ ich mein Hauen für eine Weile bleiben. Wenn ich aber wieder schlief, schlug ich auch wieder. – Ich fasste eine Strähne meiner Haare und wickelte sie zu einem Geschlinge, das ich mit drei Fingern geschickt verknotete. Dann riss ich mit dem Daumen den Knoten entzwei. Das schmerzte angenehm, und ich wiederholte es unzählige Male. Fassen, Knoten, Rupfen, das dauerte keine fünf Sekunden. Manchmal, wenn ich nachlässig geknotet hatte, öffnete sich das Haargeknäuel leicht, und ich spürte nicht mehr als ein kleines Ziehen. Zu wenig, und ich knotete den nächsten Knäuel besser. Das tat ich den ganzen Tag über, außer wenn mich Papa und Mama anschauten, denn sie mochten mein Haarerupfen nicht. – Ich rieb aber auch mit dem Daumen der rechten Hand – nur der rechten; links tat ich das nie – gegen die Seite des Zeigefingers, bis der seine Haut verlor und zuerst schorfig wurde und am Ende blutete. Ich unterhielt eine Dauerwunde voller weißer Hautfetzchen und oft mit verkrustetem Blut. Ich weiß nicht, ob ich Reiben und Haarerupfen gleichzeitig betrieb; möglich wäre es gewesen. Ich tat es aber doch eher mal so, dann so. – Ich pfiff den ganzen Tag, alles, was mir durch den Kopf ging. Melancholy Blues oder das Violinkonzert von Beethoven; mein Vater spielte seine Schallplatten, wann immer er zu Hause war; ich hörte zu und verfügte bald über ein schier unendliches Repertoire. Ich wurde ein virtuoser Vogel. Jeder konnte jederzeit hören, wo ich gerade war und dass es mir wunderbar ging. Keine Geheimnisse, nicht der kleinste Kummer, hört doch mein Jubilieren. – Ich pfiff allerdings nicht, wenn ich – ich tat das oft, und es war meine heftigste und geheimste Bizarrerie – mich in eine Zimmerecke oder unter die Treppe zurückzog. In mich selbst. Meine Körperhülle stand dann bewegungslos da, während ich ganz in mir innen war. Ich war so sehr weggetreten, dass das Haus hätte abbrennen oder einstürzen können, ich hätte es nicht bemerkt. Ich hielt die Fäuste geballt und war starr wie ein Holzklotz. Ich presste alles Blut in mein Hirn und hatte gewiss einen zündroten Schädel. Ich wollte nicht gesehen werden, das gewiss nicht. Ich wäre vor Scham gestorben, wenn meine Mutter oder mein Vater mich so überrascht hätten. Aber ich hielt mich auch für unsichtbar. (Ich vermute, dass mich meine Eltern zuweilen besorgt betrachteten. Kann sein, dass erst mein Weggetretensein unsern Besuch beim Kinderpsychologen in Bern auslöste.) – In der ersten Zeit war ich wohl ein Held und zog durch die Wälder und besiegte Drachen. Irgendetwas Großartiges, ich weiß es nicht mehr. Denn ich behielt mein Starrstehen, Fäusteballen, Blut-in-den-Kopf-Pressen und glühendes Phantasieren über Jahre hin bei. Und mit dem Älterwerden veränderten sich auch die Inhalte meiner Tagträume. Sie wuchsen mit mir. (Heute träume ich nicht mehr auf diese absolute Weise, längst nicht mehr. Aber Reste dieses Gefühls – ein Pressen im Kopf, und die Fäuste beginnen sich zu ballen – finde ich immer noch in mir. Die letzten Spuren einer Wahnwelt, in die ich mich retten wollte und die mich vielleicht tatsächlich rettete.) – Jedenfalls, bald einmal fuhr ich leidenschaftlich Auto. Zuerst saß ich, in meinem Kopf drin, am Steuer von Erwins Wanderer. Dann, als Erwin sich ein neues Auto kaufte, wechselte auch ich die Marke und fuhr, wie er, einen silbernen Citroën traction avant. Ich fuhr, wie mein gefürchtetes Vorbild, locker und lässig und gab, wenn ich zurückschaltete, Zwischengas. – Später war ich der Fahrer des Postbusses am Berninapass und konnte in mir die ganze Straße mit all ihren Kurven abrufen. Zumindest den oberen Teil, zwischen Sfazú und dem Ospizio, beherrschte ich perfekt. Natürlich war das noch die alte Schotterstraße, die so eng war, dass es meiner ganzen Fahrkünste bedurfte – hinter mir eine Handvoll Fahrgäste, für deren Leben ich verantwortlich war –, um an einem entgegenkommenden Auto vorbeizukommen. Links die Felswand, rechts der Abgrund. Immer wieder einmal musste ich aussteigen und das Fahrzeug eines Touristen aus Belgien oder Holland zur Seite fahren. Wenn gar der Laster von Iseppi in einer Kurve unvermutet vor mir stand! Aber der Fahrer von Iseppi, den ich aus vielen früheren Kreuzungsmanövern kannte (und der dem wirklichen Iseppi-Chauffeur aufs Haar glich), konnte fast so gut

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