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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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und jedem und für alle Zeiten. – Später, als ich fliehen konnte, folgte sie mir redend bis zum Fahrrad, in dessen Pedale ich entschlossen trat. Ihr Rufen verhallte, wenn ich in den Abgrund der Marignanostraße tauchte.
    KATALOG der Gegensätze: Mein Vater war klein, die Mutter groß. Er war lustig, sie ernst. Er begeisterte sich für Luftschlösser aller Art, sie hatte einen soliden Sinn für das Machbare. Er gab das Geld aus, ob er es hatte oder nicht, sie wusste den Stand ihres Sparbuchkontos auf den Rappen genau auswendig und kaufte in der EPA ein – Billigprodukte, Sonderangebote –, obwohl sie jedes Mal Angst hatte, eine ihrer Freundinnen aus der guten Gesellschaft Basels könnte sie ertappen. Er fiel mit Hohn und Spott über alle Respektspersonen her, sie bewunderte Männer mit Führungscharisma. Er machte Kalauer, bei denen sie sich unbehaglich fühlte, und sagte kaum je einen unironischen Satz. Sie meinte immer wörtlich, was sie sagte. Sie wollte jedes Ehe- oder Familienproblem sofort und radikal durchbesprechen, er hasste jedes Gespräch – jedes Gespräch über Gefühle, meine ich –, das nicht an der Oberfläche blieb. Er hatte immer Kopfschmerzen, oft Herzrasen, zuweilen Neuralgien und zunehmend kaputte Nieren, die ihn gelb aussehen ließen; sie strotzte vor Gesundheit. Er ging früh ins Bett (vor zehn), stand aber jeden Tag um fünf auf, spätestens; sie war bis nach Mitternacht auf den Beinen und schlief, wenn es ihr möglich war, bis tief in den Tag hinein. Er tat keinen freiwilligen Schritt, sie wanderte stundenlang und bestieg Berge. Er konnte nicht schwimmen, sie sehr gut, bevorzugt im Eiswasser von Bergseen, das sie mit den Zähnen klappernd als wunderbar warm bezeichnete. Er rauchte eine Zigarette nach der andern. Sie steckte sich alle Schaltjahre einmal eine an – eine Sensation für uns alle – und hielt die Nase steil in die Höhe, um dem Rauch aus dem Weg zu gehen. Er hatte zwar zu Beginn des Kriegs ein Fahrrad angeschafft, fuhr aber nie. (Konnte er das überhaupt, auf einem Fahrrad fahren? Immerhin wollten er und meine Mutter, wenn die Nazis gekommen wären, mit den Fahrrädern ins Innere des Landes fliehen, mit dem Notwendigsten auf den Gepäckträgern. Mit mir auf dem meiner Mutter, und mit der Schreibmaschine und den Zigaretten auf dem meines Vaters. Nora war damals noch nicht vorgesehen gewesen.) Sie machte ihre Einkäufe radelnd. Er ließ seine Habseligkeiten überall herumliegen, sie hatte für alles einen Platz. Er las Bücher wie die Göttliche Komödie und die Briefe der Madame de Sévigné, sie Ratgeber, die »Iss dich schlank« oder »Was fliegt denn da?« hießen. Er war ein sprachkundiger Philologe, der so stumm war, dass er, wenn er in Frankreich oder in Italien auf Reisen war und eine Auskunft brauchte, meine Mutter vorschickte, die nie studiert hatte und völlig geläufig und mit dem größten Vergnügen französisch, italienisch und englisch parlierte. (Wenn er allein reiste, fragte er eben nicht.) Er trank wenig, nichts eigentlich, sie liebte ihren Rotwein, auch wenn er nur an Festtagen ein Stägafässler oder gar ein Corton Clos du Roi und an den andern Tagen des Jahrs ein Montagner oder ein Algerier war. (An seinem fünfzigsten Geburtstag allerdings war der Vater so betrunken, dass er um vier Uhr früh in Hut und Anzug im Schwimmbecken seiner Freunde Victor und Irene Pfrunder schwamm, in das das Wasser noch nicht eingelassen war. Er kraulte auf dem Betonboden, mit der Zigarette im Mund. Ich war nicht dabei, nicht mehr, denn ich hatte ein paar Stunden zuvor einen Schnitzelbank gesungen – er war einer meiner frühen Show-Erfolge – und war tief beleidigt, als ich nach meinem Auftritt gleich wieder nach Hause musste, ab ins Bett.) Der Vater blieb zu Hause, wenn die Mutter ins Konzert oder ins Theater ging. Er liebte zwar die Musik über alles und das Theater einigermaßen, aber er konnte die Pausen nicht ausstehen, in denen meine Mutter wie eine Königin leuchtete und mit jenem Herrn Doktor oder diesem Herrn Professor Artigkeiten austauschte. »Wunderbar, wie der Paul« – Paul Sacher war der Dirigent des Basler Kammerorchesters – »den Übergang zum Adagio entwickelt hat«: Solche Sätze trieben meinen Vater zur Weißglut. Er starb jung (62), sie wurde alt (82). Ich weiß eigentlich von nichts, was sie gemeinsam hatten. Sie waren Papa und Mama. Ich liebte und brauchte beide. Das vielleicht.
    SIMONE kam nie mehr zurück, das sagte ich auch. An ihrer Stelle

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