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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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waren. Er war, vaterlos, aus dem zerbombten Deutschland nach Basel gekommen und ernährte, als Schüler!, seine Mutter und sich, indem er in den Nächten im Auftrag irgendwelcher Firmen auf einer Drehbank Werkzeugteile herstellte, deren Toleranz im Zehntelmillimeterbereich lag. Bolzen für Präzisionsgeräte, die pro Stück bezahlt wurden. Er hatte immer zu wenig geschlafen – ach ja, Cello spielte er auch noch, und zwar sehr gut – und bewirkte bei mir wahre Wunder, weil er mir die Angst vor den Zahlen und Zeichen nahm, die bis dahin wie Ungeheuer auf mich gewirkt hatten.) – Ein Gutmann wog einen Meier vielfach auf. – Beim Abitur (Matura, in der Schweiz) stand ich bei der mündlichen Prüfung vor der Wandtafel, auf die Herr Gutmann eine Aufgabe notiert hatte, die trotz Werner Lesslauers Therapie sehr einem böhmischen Dorf glich. Er stand neben mir, Herr Gutmann, mit einer Kreide in der Hand, und ich diktierte ihm, hilflos herumstotternd, meine Lösungsschritte. Mit zunehmender Zuversicht sah ich, dass er jedes Mal erfreut nickte und etwas ganz anderes auf die Wandtafel schrieb. Ich sprach immer leiser, denn da war ja ein fremder Experte, ein älterer Herr, der hinten im Zimmer saß, meist aus dem Fenster sah und vielleicht taub war. War er gar ein Komplize? Eher nicht. – Im Nu war die Aufgabe gelöst, und ich hatte im Matura-Zeugnis eine vier bis fünf, ich, der ich heute kaum noch Bruchrechnen kann und meinen Visa-Card-Auszügen, die mir die Bank schickt, blind glaube. Danke, Herr Gutmann. Danke, Werner.
    IN den Sommern gingen wir nun nicht mehr nach Weißenried, sondern in einen Ort, der ebenfalls in den Bergen lag, allerdings viel südlicher, und den man auf einer Karte der Landestopographie mit einer noch viel stärkeren Lupe hätte suchen müssen, wenn nicht just das Blatt der Fünfundzwanzigtausender-Karte, auf dem unser neuer Sommerort versteckt war, auf dem Titelblatt seinen Namen getragen hätte: La Rösa. 1871 M.ü.M., hoch oben im Puschlav, wo die Einheimischen ein Italienisch sprachen und sprechen, das nur sie selber verstehen. Keiner aus Mailand, und einer aus Basel schon gar nicht. Selbst meine Mutter, deren Heimatort Brusio war, hatte ihre liebe Mühe; dabei war ihr Italienisch tadellos.
    Nach Weißenried waren wir jeweils – oder glaube ich das nur? – einfach so aufgebrochen, mit zwei Rucksäcken mit dem Nötigsten drin (ich war ein Teil des Nötigsten gewesen und hatte Papas Rucksack alleine gefüllt; meine Mutter hatte den ganzen Rest geschleppt). Als wir nun aber zum ersten Mal nach La Rösa aufbrachen, in die Herzlandschaft meiner Mutter, packte diese zuvor tagelang Koffer und Kisten. Der ganze Haushalt schien nach diesem La Rösa zu müssen. Hosen, Gläser, Scheuerlappen, die Federballschläger, Leintücher und Kissenbezüge, und natürlich Papis Littré, der Sachs-Vilatte, ein Stapel Papier und die unverzichtbaren Bücher. Die Schreibmaschine wollte mein Vater in der Hand mittragen, denn er konnte zwei, drei Tage lang ohne den Littré und den Sachs-Vilatte sein, das allenfalls. Aber nicht ohne seine Schreibmaschine.
    In mehreren Fuhren transportierten meine Mutter und ich unsere Expeditionsausrüstung zur Post, auf unserm Leiterwagen, meine Mutter an der Deichsel ziehend, ich achtern schiebend. Der Weg war nicht weit, so nah in der Tat, dass ich aus dem Wohnzimmerfenster in die Räume der Post hineinsehen konnte. Postalltag in der Regel, Briefträger, die ihre Tour vorbereiteten oder mit den Frauen an den Schaltern schäkerten. Und einmal, an einem hochsommerlichen Hitzetag, spritzten sich zwei Pöstler in Uniform, ausgelassen herumalbernd, mit einem Schlauch nass und setzten dabei die ganze Briefpost des Tages unter Wasser. Ich sah zu, wie sie, etwas betreten, aber dennoch weiterblödelnd, die ineinander verklebten Briefe mit den Füßen zu einem Haufen zusammenschoben. Am nächsten Tag war der Haufen verschwunden, wer weiß, wohin. Wir haben jedenfalls nie einen Brief mit einer verschmierten Adresse erhalten.
    Schon Weißenried hatte uns jedes Jahr zu einer Initiationsprüfung gezwungen, die auch beim zehnten Mal nicht leicht zu bestehen war (die düstere Felswand, der donnernde Bach, der Tunnel). La Rösa machte es uns noch schwerer, beim ersten Mal jedenfalls. Als wolle es sichergehen, dass wir würdig waren, das Paradies zu sehen. Schon in Chur, Stunden noch von unserm Ziel entfernt, regnete es in Strömen. In Pontresina dann goss es, als begänne eben die Sintflut, und als wir

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