Reise zum Rand des Universums (German Edition)
des ganzen Körpers. Blicke zum Himmel, das Legen der rechten Hand auf das Herz. »Ohne Gebärden«: mehr als eine 5 kriegte man da nicht. Nie eine 6, auch wenn man den Text makellos draufhatte. Natürlich sagte ich meine Gedichte immer mit Gebärden auf. »Guten Tag, Herr Gärtnersmann« – ein zurückhaltendes Nicken, denn die Sprechende war eine feine Dame – »haben Sie Lavendel?« – fragendes Heben der Augenbrauen – »Majoran und Thymian« – dito – »und ein bisschen Quendel?« Neue Stimme, tief, denn nun sprach der Gärtner: »Ja, Madame, das haben wir, draußen in dem Garten. Will Madame so gütig sein und ein wenig warten?« Und so weiter, ich habe das ganze Gedicht bis zum Schluss im Kopf. Heute noch fuchtle ich bei meinen Lesungen mit den Händen herum, als säße Herr Graber im Publikum. – Ich überlasse die Lehrer, die mit mir nicht gut auskamen – oder ich mit ihnen –, der Nacht des Vergessens. Herrn Tschudin zum Beispiel, bei dem wir auf eine Art Kopfrechnen übten – ich habe vergessen, wie genau –, bei der zu Beginn die ganze Klasse neben den Sitzbänken stand und die, die ihre Aufgabe gelöst hatten, sich setzen durften. Ich weiß nicht, wie und warum, ich stand am Schluss jeweils als Einziger neben meinem Pult und wurde von Herrn Tschudin mit einigen besonders vertrackten Kopfnüssen bedacht. Wenn ich mich endlich setzen durfte, waren die Probleme nicht gelöst; Herr Tschudin – Doktor Tschudin, er legte Wert auf seinen Titel – gab einfach auf und winkte müde mit einer Hand. Herrn Rosenthaler (es gab keine einzige Frau an der ganzen Schule), den Chemielehrer. Herrn Schindler, der – leider, leider nicht während er uns unterrichtete – mitten in einer stinknormalen Schulstunde, als ein Schüler schon wieder das Passé simple mit dem Imperfekt verwechselte, sich langsam hinter seinem Pult erhob, »Jetzt reicht’s mir aber« murmelte, die Schule verließ und sie nie mehr betrat. Ein Schüler musste ihm seinen Hut nach Hause bringen, den er im Lehrerzimmer liegengelassen hatte. Ich sah ihn zuweilen bei Konzerten des Basler Kammerorchesters, die er zusammen mit seiner uralten Mami besuchte, mit der er in einem gemeinsamen Haushalt lebte. – Herrn Meier, den übelsten von allen, Herrn Max Meier, der der Rektor der Schule und ein erklärter Feind meines Vaters war (er hatte eine braune Kriegszeit hinter sich, mein Vater eine rote) und der, weil Schuldirektoren allenfalls vier, fünf Wochenstunden unterrichteten, sich mich extra ausgesucht hatte, um auf mir, wenn es schon mit meinem Vater nicht recht geklappt hatte, herumzureiten, was er mit einem übelgelaunten Sadismus in sozusagen jeder Schulstunde auch tat. Ein kleiner runder Mann mit einem Schnäuzchen, von dem mein Vater sagte, es habe früher genau wie das Hitlers ausgesehen, nicht, wie inzwischen, nur ein bisschen. Einmal, nur zum Beispiel, hatte ich in einer schriftlichen Prüfung genau gleich viele Fehler wie mein Banknachbar, aber eine wesentlich schlechtere Note. Ich protestierte. »Ich zähle die Fehler nicht«, sagte Herr Meier. »Ich wäge sie.« – Einige Lehrer mochte ich. Herrn Barth, den Zeichenlehrer, der brüllte statt sprach, die Farben aus ihren Tuben drückte wie Gott die Urmasse bei der Schöpfung und mir den nickname Ulle gab, den einige Uraltfreunde heute noch gebrauchen, wenn sie mit mir sprechen. Herrn Sieber! Herrn Gutmann, der mich – in der Oberstufe – just in Mathematik unterrichtete, der verwundbarsten meiner vielen Achillesfersen. Er schleifte mich irgendwie durch, einmal wirklich wundersam, weil ich am Ende der siebten Klasse mir allenfalls eine 2 (»schlecht«) erarbeitet hatte und er die im Lehrerzimmer schon notierte und für alle Kollegen einsehbare Note 3 (»ungenügend«) halsbrecherisch und in letzter Sekunde in eine 4 (»genügend«) umwandelte, weil er realisierte, dass ich sonst die Klasse wiederholen musste. Kann sein, dass eine Rolle spielte, dass er ein Freund meines Vaters war. Kann sogar sein, dass dieser Vater, zweifellos schamübergossen und stotternd, ihn darum gebeten hatte. Bei Herrn Gutmann machte ich in der Folge sogar meine Hausaufgaben. (Ich bekam auch Nachhilfestunden, von Werner Lesslauer, einem kaum älteren und um viele Jahre reiferen Freund, der einer der Lieblingsschüler meines Vaters war oder gewesen war, ein Sorgenkind auch er, aber kein verhemmtes und lerngestörtes wie die andern, sondern ein blitzgescheites, dessen Probleme in seinem Schicksal begründet
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