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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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in der Berninabahn saßen – wir waren die einzigen Passagiere, als sei es gefährlich, an einem solchen Tag in die kahlen Höhen des Berninapasses hochzufahren –, fegten Schneeschlieren an den Fenstern vorbei. Im Juli! Felsklötze lagen wie Tiere auf den steilen Weiden, und da und dort sah ich tatsächlich Kühe, die, Felsen gleich, im Schneetreiben auf ihren Tod warteten. Ein Schaffner war auch nicht da; dass der Zug einen Lokführer hatte, konnten wir nur hoffen. Immerhin hielt er halbwegs normal an der Station Ospizio, und wir stiegen mit all unsern Säcken und Packen aus, die wir, trotz der Postfuhre, mit uns trugen. Nora und ich hielten unsere Lieblingszwerge in der Hand, zeigten ihnen die furchterregende Landschaft – einen milchgrauen See, über dem aus schwarzen Wolken ein Gletscher hing – und erklärten ihnen, dass sie sich nicht fürchten müssten, denn wir würden sie beschützen. Weder Nora noch ich glaubten das, und die beiden Gummizwerge auch nicht. Wir hatten selber Zuspruch nötig, den wir – das sah ich, als wir uns im Schneeregensturm zum Postbus hinüberkämpften – mindestens von unserm Vater nicht erwarten konnten. Der sah entschieden verzweifelt aus und biss auf seinen Mundspitz, in dem eine nasse Zigarette dabei war, in Stücke zu fallen. Er umklammerte mit beiden Händen den Kasten mit der Schreibmaschine. Nur meine Mutter, die als Einzige La Rösa schon kannte, zeigte eine etwas verkrampfte Zuversicht und lachte, als ihr ein Windstoß die Segeltuchtasche aus der Hand fegte. Der Bus war abgeschlossen, kein Chauffeur weit und breit. Eine Minute vor der offiziellen Abfahrtszeit kam er aus dem Stationsgebäude – da war ein kleines Restaurant, das zu betreten wir nicht erwogen hatten, weil wir nie in Restaurants gingen und weil der Bus ja gleich abfahren sollte –, begrüßte uns, als sei so ein Wetter das Selbstverständlichste der Welt, ließ uns in den Bus und fuhr auch gleich los. Null Grad Celsius, wohlmeinend geschätzt, auch im Bus drin. Bis zum Hospiz hoch fuhren wir auf einem Schotterweg, der schmaler als der Bus war und eine so enge Haarnadelkurve hatte, dass der Chauffeur zweimal zurücksetzen musste und wir trotzdem so über dem Abgrund hingen, dass ich keinen Straßenrand mehr sah. Auf der Passstraße dann, die ebenfalls geschottert und voller Schlaglöcher war, konnten zwei Autos kreuzen, wenn sie sich millimeternah aneinander vorbeischoben. Es kam aber kein Auto, als wir ins Tal hinabfuhren, das von Wolken erfüllt war und wie ein Meer aussah, in das wir auch gleich hinabtauchten. Der Chauffeur erriet nun den Verlauf der Straße eher als er ihn erkannte. Zuweilen, in engen Kurven an Felswänden vorbei, betätigte er das Dreiklanghorn, das gurgelte, als schwämmen wir unter Wasser.
    Dann standen wir im Freien. Alles milchweiß. Wo war vorne, hinten, unten, oben? Papa, Mama und Nora kaum zu sehen! Der Bus hatte gerade so lange gehalten, dass wir hinausklettern konnten, und war sofort weitergefahren. Seine roten Schlusslichter noch einen Augenblick lang, und weg war er. Noch einmal, fern, das Horn. Die Mutter führte uns wie drei Blinde über eine Brücke, unter der ein Wasser rauschte, das wir nicht sahen, vor ein Steinhaus, das erst aus dem Nebel auftauchte, als wir direkt vor ihm standen. Es sah unbewohnt aus, obwohl alle Fensterläden offen waren. Auf seiner Vorderfront stand wie zum Hohn S’oggi seren non è, diman sarà seren. Se non sarà seren, si rasserenerà. (Ich las das nicht an diesem ersten Abend. Und ich verstand es erst Jahre später: »Wenn’s heute nicht schön ist, wird’s morgen schön sein. Und wenn’s morgen auch nicht schön ist, wird’s irgendwann mal wieder schön.« )
    Wir gingen um das Haus herum – der Haupteingang, der am Ende einer wuchtigen Steintreppe im ersten Stock lag, war nicht unserer –, schräg im Wind uns die Nordseite entlangkämpfend und endlich, während der Regen uns peitschte, eine morsche und ewig lange Holztreppe hochsteigend, die der Außenwand der Rückseite des Hauses entlang in den zweiten Stock führte, bis unters Dach, wo meine Mutter lange mit einem riesengroßen Schlüssel an einem Türschloss herumfummelte, das den Schlüssel nicht als den seinen erkennen wollte. Endlich gab es nach. Innen ein lichtloser Korridor. Eine Luft vom letzten Jahr. Nackte Kalkwände, Holzbohlen, der Teppich – brauner Rupfen – lag am Korridorende aufgerollt. Meine Mutter – »Ja, ja, alles wie früher!« – machte Licht in der

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