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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Hemd hießen, Mischwi-el-hussan-el-Bar, Nilpferdbraten. Sümüklü bötschekler, in dem sogar ich das Türkische erkannte: die Weinbergschnecke. Dschehenna und Giaur, der elende Christenhund. Auch Bachi hatte so ein Heft und lernte die Vokabeln auswendig, so dass wir uns leicht auf Arabisch unterhalten konnten. – Irgendwann war auch der letzte Karl-May-Band gelesen (ich habe alle gelesen, an die ich herankam; weit über fünfzig), und meine Kindheit war vorbei.
    DER Trieb, auch wenn ich mich mit Händen und Füßen gegen ihn wehrte, meldete sich wieder zu Wort, diesmal endgültig. Es kam zum ersten Kuss, zum zweiten, zum dritten. Mein erster Kuss hieß Marie-Fleur, ein Wesen wie eine Fee, eine Fee in Tanzschulkleidern, die ich nach der Tanzstunde (bei Frau Bickel, die achtzig Jahre alt war, bei der meine Mutter schon tanzen gelernt hatte und die uns die Schritte – Walzer, Foxtrott, Tango – an Krücken vortanzte) nach Hause begleitete, an die Austraße, wo ich sie unter der Haustür küsste. Es war auch ihr erster Kuss, jede Wette. Steife schmale Lippen bei beiden, trocken aufeinandergepresst für zwei, drei Sekunden. Keine Lippenbewegung. – Moni küsste schon kundiger, oder wir lernten es gemeinsam. Mit ihr blieb ich länger. Auch sie war eine Schülerin Frau Bickels, und wir gewannen zusammen beim Abschlussball im Hotel Drei Könige (die ganze Lothar-Löffler-Big-Band) den English-Waltz-Wettbewerb. Ich hätte zwar lieber im Foxtrott obenaus geschwungen – da durfte man, wie es hieß, »offen« tanzen; das bedeutete, dass sich die Tänzerin tanzend vom Tänzer trennte – allenfalls blieben die ausgestreckten Zeigefinger beisammen – und nach einer wohlchoreographierten Figur wieder an der Brust des Tänzers landete, und umgekehrt. Aber langsamer Walzer war auch gut. Ich erhielt eine Krawattennadel aus Pseudogold und Moni eine Halskette aus Kunstperlen. – Wir tanzten, aus Frau Bickels Schule entlassen, dann noch oft zusammen. Langsamen Walzer, sehr langsamen Walzer, einen so langsamen endlich, dass er keine Bewegung mehr brauchte, keine Bewegung der Füße, meine ich, denn unsere Lippen und Hände bewegten sich durchaus, so sehr, dass Moni in einem jähen Entschluss einen Schritt zurücktrat und sagte, dass es, wenn wir jetzt nicht sofort aufhörten, tierisch werden würde. Ich hätte es gern tierisch werden lassen (hätte ich wirklich?), hörte aber auch auf. – Mit Moni ging ich im Wald spazieren. Sie hatte eine Art, sich bei mir unterzuhaken, die sehr einem Polizeigriff glich. Wenn sie mich einmal in ihren Pranken hatte, konnte ich ihr nie mehr entkommen. Sie hatte große braune Augen. – Einmal gestand sie mir plötzlich – ich war gerade dabei, ihr das Funktionieren des Weltalls zu erklären oder so was –, dass sie ein dringendes menschliches Bedürfnis habe. Jetzt, auf der Stelle, es gehe nicht mehr anders. Ich nickte und ging ein paar Schritte weiter, während sie sich hinter einen Busch kauerte. Ich spürte in mir ein aus meinem Innersten aufwallendes tiefes Gefühl, das besagte, dass ich jedes Verständnis dafür hatte, dass auch Frauen scheißen müssen, nicht nur Männer, und dass ich dabei war, einen weiteren Schritt in die Welt der Erfahrungen von Erwachsenen zu tun. – Da war sie schon wieder, munter wie ein Vogel, und nahm mich in ihren Polizeigriff. (Apropos tanzen. Meine Mutter tanzte leidenschaftlich und gut. Sie war gewiss eine Musterschülerin der jungen Frau Bickel gewesen und hielt, während sie übers Parkett schwebte, ihren Kopf – ein ernstes, hochkonzentriertes Gesicht – leicht schräg und die Schultern auf immer der gleichen Höhe. Das war das, was ihr Frau Bickel eingehämmert hatte und mir einzuhämmern im Begriff war: dass die Schultern so gleichmäßig ruhig bleiben mussten, dass man zwei volle Champagnergläser auf sie stellen konnte, ohne dass ein Tropfen verschüttet wurde. Meine Mutter bestand darauf, mit mir zu üben. Sie schob die Möbel in eine Ecke und rollte den Teppich ein. Sie hatte sogar [sie; nicht ich] geeignete Schallplatten gekauft. Schellack, es war noch die Schellack-Zeit. Slow Waltz, Wiener Walzer, Tango, Foxtrott, ja sogar einen Samba, der zu ihrer Zeit noch nicht unterrichtet worden war und in dem sie denn auch nicht ihre gewohnte Souveränität erreichte. Da tanzten wir, die Mama und ihr Sohn! Sie wollte geführt werden und folgte ihrem Tänzer, mir, wie eine Feder. Ein Antippen ihres Rückens genügte. Sie tanzte wirklich gut.)
    ENDLICH

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