Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Lebens; er kam wohl unmittelbar nach dem Krieg in die Schweiz. Da sah ich, ganz deutlich, was ich schon geahnt hatte, als ich die Geschichte vorgelesen bekam: dass die Königin nicht nur meiner Mutter glich, sondern meine Mutter war. (Dabei las sie mir die Geschichten ja vor.) Als sie eine Hexe geworden war, in den Abgrund stürzte, war das ein unnennbarer Schrecken und eine Erlösung gleichermaßen. Und als das scheintote Schneewittchen dann vom Prinzen wachgeküsst und mit ihm ihrem Erwachsenenleben entgegenritt, blieb ich begeistert ein Zwerg und vermisste sie überhaupt nicht. – Meine Mutter liebte schier unendlich ein Buch, das Helenes Kinderchen hieß und in dem Helene, die Mutter von drei oder vier Kinderchen (eine Britin), über die allerbesten Manieren der Welt verfügte, so liebreizend, so korrekt, so selbstverständlich. Eine natürliche Güte des Herzens, die sie auch leitete, wenn sie ein Hausmädchen bestrafte, die das Bett ohne die angemessene Sorgfalt gemacht hatte. Sie strich ihr den freien Sonntag, das gewiss, aber sie ließ durchaus zu, dass die Magd eine Stunde lang im Garten in der Bibel las. In der Szene, die meine Mutter immer wieder vorlas (sie las das Buch sich vor und konnte manchmal kaum weiterlesen, so sehr musste sie lachen), saß die Familie am Tisch und aß eine Suppe, und das kleinste der Kinder, das noch kaum sprechen konnte – und schon gar nicht korrekt –, hob, ohne dass jemand sonst das bemerkte, seinen Teller mit der Suppe an, um das Zeichen des Herstellers am Tellerboden zu bestaunen, eine Schildkröte, und es neigte den Kopf immer mehr und den Teller auch und sah das ersehnte Markenzeichen der Firma Wedgwood oder Stanley and Bridges, die Schildkröte eben, und rief entzückt: »Schildflöte!« Und die ganze Suppe schwappte über den ganzen Tisch. Meine Mutter konnte nicht weiterlesen vor Lachen, ja sie kam gar nicht bis zur Pointe, weil sie vorher lachte. – Helene, die Mutter, war auch in dieser Episode so wie meine Mutter an ihrer Stelle gewesen wäre: streng, aber voller Zuneigung. – Mein Vater las uns seinen Vinzi vor, ein Buch für Buben, dessen Abenteuer er selbst erlebt zu haben behauptete, und auch ein zweites Buch für Kinder, das er geschrieben hatte und dessen Manuskript er auf den Knien hielt. Die Bünzlacher und die Wehracher. Es erzählte von zwei Bubenbanden aus zwei benachbarten Dörfern – Bünzlach und Wehrach eben –, die sich mit allerlei Listen und Abenteuern bekämpften, wobei immer die Bünzlacher gewannen, denn mein Vater, der im Buch drin vorkam und, glaube ich, sogar Walti hieß, war ein Bünzlacher; und so war ich natürlich auch einer. (Was Nora war, weiß ich nicht; es war eine Bubenbande. Nora war allerdings eine halbe Kindheit lang ein Bub und wurde von meinem Vater Fritzli genannt. Auch gründete sie zu der Zeit einen Verein, dessen anderes Mitglied Regeli Schaub war und der »Schmerzen ertragen« hieß.) Später, viel später fand ich heraus – ich spüre heute noch den Schock der Enttäuschung –, dass mein Vater diese herrlichen Geschichten gar nicht selber erfunden oder erlebt, sondern aus Pergauds Krieg der Knöpfe ausgeliehen und auf unsere lokalen Verhältnisse umgeschrieben hatte.
Und dann las ich selber. Ich wurde, kaum war ich hinter die Geheimnisse der Buchstaben gekommen, omnivor. Ich las alles, was irgendwo an Wände oder auf Plakaten angeschrieben war. Oder im Tram. »Kafapulver gegen Schmerzen« (eine violett angelaufene Frau, die sich schmerzverzerrt den Schädel hielt). »Erwecken Sie die Galle Ihrer Leber« (eine Aufforderung voller Geheimnisse, die ich bis heute nicht ganz entschlüsselt habe). »Nicht auf den Boden spucken.« Meine ersten Bücher hatten nur wenig Wörter, oder gar keine. Vater und Sohn und Adamson. In Vater und Sohn lebten Vater und Sohn (nie eine Mutter, nie eine Schwester) in inniger Freundschaft, in der allerdings, wenn’s heikel wurde, der Sohn der geschicktere und listigere der beiden war. Der Vater war aber gar nicht beleidigt, wenn ihm der Sohn wieder einmal aus einer Not heraushelfen musste, sondern freute sich herzlich. Adamson war ein einsamer älterer Herr mit drei einzelnen Haaren auf dem Kopf und einer Oberlippe, die sehr der meines Vaters glich. Auch er war ein lieber Tolpatsch. – Dann: Stopp Heiri, da dure!, ein richtiges Buch, ein echter Roman, glattweg ein Hundertfünfzigseiter, in dem Heiri den andern Buben zeigte, wo’s langging (»da durch!«), weil er einfach cleverer
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