Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Leckerli gar nicht so übel waren – wunderbar! – und nichts mit dem Schrott zu tun hatten, den man heute angedreht bekommt, wenn man in einem Basler Fachgeschäft Leckerli kauft. Hart, unessbar, statt mit jenem weichen Biss, bei dem man gerade so viel Widerstand spürt, dass der Honiggeschmack Zeit findet, sich im Gaumen zu entfalten. Die Weihnachtsgutzi buk meine Mutter ganz ungetarnt, ohne zu behaupten, das Weihnachtskind bringe all die Brunsli, Änisbrötli, Mailänderli, Zimtsterne, Mandelstängeli, Leckerli. Nein, sie war die Zauberin. ( Essen durften wir sie erst am Festtag.) Ohne ein sogenanntes Gschiss ging es allerdings nie ab. Ein Gschiss zu machen, war etwas, wozu sich meine Mutter immer wieder einmal genötigt sah. (Auch Norina neigte, wenn sie unter Druck geriet, zum Gschiss-Machen.) Es war eine Form der Aufregung, bei der alle Handlungen, die theoretisch auch in aller Ruhe ausgeführt werden konnten, von allen Formen des Desasters bedroht zu sein schienen und endlich ihren verbalen Ausdruck fanden. »Jesses!« war der häufigste Ausruf, wenn etwas richtig schiefzulaufen drohte. Etwa wenn meine Mutter den Puderzucker suchte und plötzlich bemerkte, dass die Brunsli schon dreißig Sekunden zu lange im Ofen waren. »Jesses!« (In schlimmen Fällen mehrfach wiederholt: »Jesses, Jesses, Jesses!«) Denn die Brunsli hatten Backzeiten, die in Sekunden gemessen wurden. Meine Mutter zählte auf dreihundertzehn oder so was. Sie arbeitete mit der Briefwaage und dem Millimetermaß, denn wenn die Brunsli – die Gutzi ganz allgemein – auch nur um einen Millimeter zu dick oder zu dünn ausgewallt waren, missglückten sie. Meine Mutter hantierte mit dem Wallholz (einer Holzrolle mit je einem Griff rechts und links) wie eine Künstlerin und vermochte mit ihren Händen so wenig Druck zu geben, dass der Brunsliteig um weniger als einen Millimeter dünner wurde, dünner aber eben doch, und dies überall gleich. Als hätte sie eine Wasserwaage in sich eingebaut. Trotzdem war das Backen dann ein Hasardspiel. Auch meine Mutter konnte den Backofen des Gasherds – bald explodierte er ja auch – nicht so vorheizen, dass in ihm genau die richtige Temperatur herrschte. Der Augenblick, da sie die Backofentür öffnete und das Blech herauszog, war immer erneut eine Nervenprobe. »Jesses!«
UND zweitens: die ersten Bücher. Natürlich sind mir die ersten Geschichten erzählt worden (von meinem Vater eher; meine Mutter konnte nicht erzählen; nur vorlesen, und reden natürlich): die Geschichte vom Soldaten Jonny, der so hohes Fieber hatte, dass er die ganze Kaserne heizte, indem er durch die Räume schlenderte. Die Geschichte der frommen Nonne, die ein Leben lang – beinah ein Leben lang – Verstopfung hatte und Gott anflehte, sie zu erlösen, und endlich einen so großen Haufen Steine kackte, dass sie, zum Dank, aus ihnen eine Kapelle errichten konnte. (Solche Geschichten gefielen meinem Vater.) Und auch ein Nonsense- Lied, das vielleicht sogar von meinem Vater erfunden worden war und das Nora und ich sofort auswendig konnten, das wir bis vor kurzem immer wieder einmal anstimmten (jetzt, es ist schrecklich, kann meine Schwester weder sprechen noch singen) und dessen erste Strophe lautete: Minne minne minne watschantorum, quorum king kung kai. Meine Mutter schaffte es nie, auch nur den Anfang zu lernen (das Lied hat drei Strophen und einen Refrain), und sie wollte es wohl auch nicht. – Sie brauchte eine Vorlage, um zu erzählen: Das Märchen von dem tapferen Schneiderlein, das sieben auf einen Streich erledigen konnte, und das waren Fliegen. Rumpelstilzchen, wie es um sein Feuer tanzte und »Ach wie gut, dass niemand weiß« jubelte. Und, vor allem, Schneewittchen, die Geschichte, die mich von all diesen ähnlichen, die mit »Es war einmal« anfingen und mit »Und wenn sie nicht gestorben sind« aufhörten, am meisten bewegte. Im ersten Teil war ich Schneewittchen, dessen Mutter so bös und dessen Vater so machtlos ihr gegenüber war, dass er sein Kind nur, als Jäger getarnt, an den Waldrand führen und »Lauf, lauf« rufen konnte. Gewiss wurde er dafür von seiner Frau, der nichts entging, bestraft. Im zweiten Teil, kaum hatte Schneewittchen das Haus hinter den sieben Bergen gefunden, wurde ich ein Zwerg, alle Zwerge. Wie schön war das Gemeinsame mit den sechs Freunden! Allerdings ist mein Märchen eher das von Walt Disney erzählte, nicht das der Gebrüder Grimm. Schneewittchen war mein erster Film, der Film meines
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