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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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küssten uns dort und weiteten unsern Heimweg (nach der Schule; oft und mehr aber auch abends, nachts, wenn wir unsere Stunden irgendwo verbracht hatten), indem wir auf einem kleinen Fußweg dem Bahndamm entlanggingen oder am Bahnbord saßen, wo hie und da ein Zug der deutschen Bundesbahn auf dem Weg ins Wiesental vorbeirumpelte. Dann hielten wir inne mit dem Küssen und schauten den erhellten Fenstern nach, unsichtbar selber; oder wir hielten auch, aus genau diesem Grund, nicht inne. Es war auch die Zeit, da ein Mann (ich), wenn er einer Frau (Anne-Marie) den BH ausziehen wollte, dies so tat, als sei seine Hand rein zufällig und absichtslos unter ihrer Bluse auf ihrem Rücken, und die Frau ihrerseits (Anne-Marie) berichtete weiterhin von dem oder jenem, als merke sie gar nicht, was der Mann (ich) da an ihr herumfuhrwerkte, auch wenn es mir nicht und nochmals nicht gelingen wollte, dieses verflixte Häkchen zwischen ihren Schulterblättern zu öffnen. Dann war endlich der Haken offen, der BH rutschte weg, und ein Zug fuhr vorbei, ohne dass wir Augen für ihn hatten. Wir hatten Augen nur für uns selber und schlossen sie, während unsere Hände (meine, auch ihre) überallhin gingen, so sie willkommen waren. Sie waren, nachdem die richtige Zeit verstrichen war, überall willkommen. Unsere Sinne kochten nun, ihre und meine, aber ich lebte in dem Wahn (wer hatte mir das vermittelt?), dass der Mann, nur der Mann, ich also, eine Frau begehrte und verführte und ihr die Sinne zu rauben versuchen musste, während die Frau jederzeit – außer in jenem letzten Augenblick, da ihr Widerstand jäh schmolz – Herrin ihrer Sinne blieb und das Liebesglück in heiterer Selbstsicherheit gewähren konnte oder nicht. So dass Anne-Marie sich meinem Begehren erst ergeben konnte, wenn ich ihr alle Sinne geraubt hatte und sie schier in Ohnmacht fiel vor Begehren und sich endlich unter der gewaltlosen Gewalt des Mannes (meiner Gewalt) hingeben musste. Hingeben, das war das Wort. Anne-Marie wollte sich hingeben – ich sah es und begriff es doch nicht –, ich war der Tölpel, der immer erneut, wenn Anne-Marie längst bereit und willens war, innehielt, weil irgendetwas in mir es verbot, das Herrliche zu tun, jetzt, da, hier am Bahndamm. Was hätte es die vorbeirumpelnden Wiesentaler geschert, sekundenschnell ein in sich verschlungenes Liebespaar zu sehen! Aber nein. Immer landeten wir endlich, zwei erregte auf ewig jungfräuliche Verliebte, an ihrem Gartentürchen und küssten uns ein letztes Mal zum Abschied. Auf dem Heimweg, auf dem Fahrrad, konnte ich mich kaum auf den Sattel setzen, so sehr schmerzten mich die unerlösten Hoden. – Wir waren selten bei ihr im Haus. In meinem auch kaum. Nicht dass sie mich verbarg, oder ich sie. Aber da waren, auch bei ihr, eine Mama und ein Papa (auch ein Bruder), die das Zusammensein trübten und eine Intimität verboten, auch wenn sie (die Mama vor allem) freundlich zu mir waren. Der Vater, ein Chemiker, wirkte wie frühpensioniert und war dies vielleicht auch. Er war ein finsterer Mann, dessen kurze Sätze, ein Knurren, nur schwer zu deuten waren, nahm mich kaum wahr, verpflichtete mich aber dennoch zu allerlei Arbeiten – um mich von der Tochter fernzuhalten vielleicht –, denn sein Hobby war das Papier, waren Papiere aller Arten seit den ägyptischen Papyri, und ich saß also für ihn im Staatsarchiv der Stadt Basel – mit irgendeiner Sondererlaubnis – und prüfte Hunderte von Schriften aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, nicht ihrer Inhalte wegen, sondern wegen der Wasserzeichen der verschiedenen Papierhersteller – da gab es ganze Papierkünstlerdynastien –, die Anne-Maries Vater sammelte, systematisierte und in kluge Zusammenhänge brachte. Auch plante er zu der Zeit gerade ein Papiermuseum und die Rekonstruktion einer alten Papiermühle unten im St.   Albanloch, die später tatsächlich gebaut wurden und heute noch existieren. – So waren wir also weder bei Anne-Marie noch bei mir. Als ob unsere Eltern es verböten. (Einmal war ich doch in ihrem Zimmer. Sie hatte eine Grippe, und ich saß brav an ihrem Bett und heiterte sie mit meinen Geschichten auf. Da erschien plötzlich – Anne-Maries Zimmer lag im ersten Stock! – das Gesicht der Mutter im Fenster. Sie hatte eine Leiter angestellt und war hochgeklettert. Als sie sah, dass ich sie sah, verschwand ihr Gesicht, schnell wie das eines Kobolds. Wir, Anne-Marie und ich, hatten also nicht allzu unrecht gehabt, der

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