Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Anne-Marie. Ich hatte sie, von meinem Fahrrad aus, auf dem Heimweg schon ein paarmal gesehen. Ein völlig entzückendes schlankes Mädchen, das leise und unbekümmert ihrem Heim entgegentrippelte, mit einer Tasche unterm Arm, in der gewiss ihre sieben Schulsachen waren. Mädchen, sage ich, weil ich damals Mädchen sagte: Sie war ganz gewiss eine Frau! Bevor ich sie ansprach – noch nie hatte ich eine Frau angesprochen! Einfach so! –, war es so etwas wie die große Liebe als eine ferne Möglichkeit, aber als ich, auf dem vierten oder achten Heimweg – drei oder sieben Male hatte ich den Mut doch nicht gefunden und war mit brennendem Herzen und einem glühenden Gesicht an ihr vorbeigefahren – mir dann doch ein Herz fasste, neben ihr anhielt und etwas zu ihr sagte, ein Gestammel, und als sie dann so einfach antwortete wie Gretchen ihrem Faust, explodierte die große Liebe in mir, und ich stand in Flammen. – Ich begleitete sie bis zum Türchen ihres Gartens, wo wir uns die Hand gaben. »Ich heiße Anne-Marie«, sagte sie, und ich: »Urs.« Ich sah zu, wie sie zur Haustür ging und klingelte. Ich trat in die Pedale, bevor eine Mutter sichtbar wurde; eine Mutter wollte ich jetzt nicht. Wir hatten uns nicht verabredet, auf keine Weise, aber es war klar, dass wir uns am nächsten Tag wieder am gleichen Ort, in der Nähe der Haltestelle Burgstraße, treffen würden. Ich war da, und natürlich kam auch sie. Sie freute sich und plauderte fast so viel wie ich aus mir herausschnatterte. Sie fuhr immer mit der Straßenbahn zur Schule, besaß gar kein Fahrrad; aber nie kam ich auf die Idee, meinen Schulweg mit ihr zusammen zu machen. Im Gegenteil, von meinem Fahrrad trennte ich mich ihretwegen nicht, und ich fuhr, wie das alle Buben taten, die dabei waren, Männer zu werden und etwas mit Mädchen oder eben Frauen im Sinn hatten, nach Schulschluss vom Realgymnasium an der Rittergasse zum Barfüßerplatz hinunter, zu dem, von zwei andern Seiten her, auch die Frauen hinströmten. (Es gab damals noch keine Koedukation, und die Mädchen- und Bubenschulen standen rund um den Barfüßerplatz verteilt.) Ich stand locker da, an mein Fahrrad gelehnt, und versuchte, erwachsen auszusehen. Als ob ich rauchte, obwohl ich es nicht tat. Während ich mit dem oder jenem Spezi plauderte, hatte ich alle jungen Frauen im Blick, und natürlich sah ich meine Anne-Marie sofort, wenn sie, mit ein paar Freundinnen, von der Mädchenrealschule herkam. Natürlich sah auch sie mich. Wir sprachen aber auf dem Barfüßerplatz (»Barfi«) nie miteinander, wirklich nie. Ich wartete, bis ihre Trambahn (die 6) gekommen war; sie ließ zwei oder drei Bahnen vorbeifahren – sie hatte ja auch ihre Freundinnen – und stieg mit Vorliebe in den sogenannten Eilkurs, der nicht an allen Haltestellen hielt; an ihrer sehr wohl. Ich startete zusammen mit ihrer Trambahn und hetzte parallel zu den Geleisen nach Riehen. In der Stadt hatte ich bald einen tüchtigen Vorsprung, aber auf der Überlandstrecke holte die Bahn ebenso gewiss auf. Besonders wenn sie der Eilkurs war, den allerdings und Gott sei Dank oft der vor ihm fahrende Bummler bremste. Wenn ich es bis zu den Habermatten geschafft hatte, vor Anne-Maries Tram zu bleiben, hatte ich gewonnen. Selbst wenn es mich dann noch überholte – vom Niederholz bis zur Burgstraße stieg die Straße tüchtig an, und ich konnte ja nur im größten Gang fahren –, war ich auf der sicheren Seite. Von ihrer Haltestelle bis zu unserm Treffpunkt musste Anne-Marie durch einen kleinen Park gehen, und sie richtete – glaube ich – das Tempo ihrer Schritte so ein, dass wir genau zur gleichen Zeit an unserer Straßenecke eintrafen. Nie musste sie auf mich warten, ein paarmal nur ich auf sie. Doch, gleich beim ersten Mal war ich langsamer gewesen, und ich sah sie, wie sie auf dem Trottoir ihrem Haus entgegenging. Sie beeilte sich nicht, drehte sich aber auch nicht um. Unsere Liebe war noch zu jung und zu unausgesprochen gewesen, als dass sie auf mich zu warten gewagt hätte; aber sie wurde rot vor Freude, als ich doch noch auftauchte, ebenfalls rot, ich aber, weil ich den Berg hinaufgefahren war wie Fritz Schär oder der Teufel. – Es war die Zeit, wo man (wo einer wie ich) die Liebeserklärungen langsam und zögernd machte; und sie war auch keine, die sich mir an den Hals schmiss. Natürlich küssten wir uns trotzdem sehr bald, und Anne-Marie konnte es entweder schon oder lernte es sekundenschnell. Wir küssten uns hier und
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