Reise zum Rand des Universums (German Edition)
natürlich wurde aus meiner naiven Hoffnung nichts. (Er hatte, eine Selbstverständlichkeit bei einem so staatsnahen Werk, alle Fragen der Urheber- und Publikationsrechte längst geregelt.) Bonjour wühlte sich offenkundig ganz allein, in der Art der Gelehrten seit eh und je, durch die Akten hindurch, Tausende von Akten, er exzerpierte sie mit einem Füllhalter in seine Notizhefte oder Karteikarten und schrieb so sein Buch. Er wirkte schon damals, Mitte der Sechzigerjahre, auf mich wie aus der Zeit gefallen. Einem Mönch ähnlich, nicht einem gläubigen, sondern einem vernünftigen. Staatstreu ja, aber nicht obrigkeitshörig. – Er begleitete mich zur Tür seiner Gelehrtenkammer, drückte mir die Hand und sagte – die Tür stand schon offen –, ja, nach meiner Doktorprüfung, da sei er zufällig hinter mir drein Richtung Spalentor gegangen, ich sei mit zwei Damen gewesen (in der Tat hatten mich May und Nora abgeholt), er habe uns lachen hören, herumalbern, und dann seien wir quer über die Straße gegangen und im Restaurant Harmonie verschwunden. Er sah mir in die Augen. Da habe er, sagte er leise, sich alt gefühlt und voller Neid auf uns Junge, und am liebsten wäre er mitgegangen. – Er drehte sich um und ging zu seinem Arbeitsplatz zurück, ein fast so weiter Weg wie damals im Hörsaal, und ich schloss die Tür, bevor er an seinem Schreibtisch angekommen war.
GEORGES Blin war ein eminenter Stendhal-Spezialist (Stendhal war damals schon einer meiner Heroen), aber ich verstand ihn nicht, obwohl ich mich in seinen Vorlesungen in die erste Reihe setzte, direkt vor ihn. Er flüsterte. Er hauchte. Keiner verstand ihn. Ich staunte diesen bleichen Pariser Intellektuellen an, der bewegungslos und ohne Stimme eine akademische Stunde lang aus einem Manuskript vorlas, das vor ihm auf dem Pult lag. Nie hob er den Kopf so weit, dass ich es wenigstens mit Lippenlesen hätte versuchen können. Keine Ahnung, ob er jemals von Stendhal sprach. – Sein Flüstern hinderte ihn allerdings nicht daran, das Dienstmädchen von Werni und Hilli Rihm (jener, die mein Bett in La Rösa zu Kleinholz geliebt hatten und in Riehen unsere Nachbarn waren) anzubaggern, auf dem Marktplatz inmitten von vielen andern Gemüsekunden, von hinten in ihr Ohr hauchend zuerst, flüsternd dann und endlich, als das Dienstmädchen den Kopf schüttelte, ohne sich auch nur umzusehen, schreiend. Er brüllte: »Mais, Mademoiselle, je suis professeur à l’université de Bâle!« Jetzt wandte sich das Dienstmädchen ihm zu. Alle im Umkreis von einem Dutzend Metern sahen sich nach dem liebestollen Schreihals um, der über und über rot wurde und eilends zwischen den Marktständen verschwand. Das Dienstmädchen war von Blins Argumentation, warum sie die Seine werden sollte, immerhin so weit beeindruckt, dass sie die Geschichte Werni und Hilli erzählte, und die erzählten sie uns. Von da an sah ich Georges Blin, wenn ich in seinen Vorlesungen saß, mit andern Augen. Verstehen tat ich allerdings immer noch kein Wort. Die Studentinnen brachten ihn nicht zum Schreien, und wir Studenten schon gar nicht. – Ja, dazu passt, dass Georges Blin mich – beim allerersten Gespräch, das auch das letzte war – missverstand, als ich auf seine höfliche Small-Talk-Frage, was ich in den Semesterferien getrieben hätte, antwortete: »J’étais à la Côte d’Azur, avec ma tente.« Tente, Zelt. Er verstand allerdings tante, Tante, und war plötzlich sehr interessiert. »Ah oui, avec votre tante, c’etaient sûrement des vacances bien belles.« Ein paar kostbare Minuten lang – kostbar in der Erinnerung – bewegte sich das Gespräch auf zwei Bedeutungsebenen, weil ich ihm die Vorzüge meines Zelts schilderte – klein, wetterfest, anspruchslos – und er diese mit seinen Erfahrungen, Tanten betreffend, abglich. – Von einem Tag auf den andern fand sein Basler Exil ein Ende, diese Zeit in der Wüste, und er erhielt endlich den ihm gebührenden Lehrstuhl am Collège de France oder an der Sorbonne.
ZU Werner Kaegi, Karl Jaspers und Karl Barth nur so viel. Werner Kaegi wusste alles, was zwischen den Jahren 3000 v. Chr. und 1789 geschehen war. Alles. Nach 1789 war die abendländische Welt völlig anders und ging in die Zuständigkeit Edgar Bonjours über. (Allerdings war Kaegi auch der Biograph Jacob Burckhardts, über dessen Zeit er im Stundentakt Bescheid wusste.) Für Werner Kaegi gab es, dozierend, keine Abschweifung, die er nicht lustvoll aufgegriffen hätte. Er
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