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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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kommt, wird meine Geschichte aller Welt bekannt. Indem er mir erlaubt, die Geschichte schriftlich niederzulegen, sammelt er Beweise, unwiderlegbare Beweise, die alles, was er gegen mich zu unternehmen gedenkt, rechtfertigen werden. Angenommen, zum Beispiel, er lässt mich ohne Prozess erschießen. Sobald die Kommandanten in der Hauptstadt von meinem Tod erfahren, werden sie von Gesetzes wegen verpflichtet sein, eine offizielle Untersuchung anzustellen, und wenn er ihnen dann vorlegen kann, was ich geschrieben habe, ist er entlastet. Zweifellos wird man ihm einen Orden verleihen, weil er das Problem so sauber gelöst hat. In der Tat ist es sogar möglich, dass er ihnen bereits von mir geschrieben hat und dass ich diesen Stift jetzt nur in der Hand halte, weil sie ihn angewiesen haben, ihn mir zu geben. Unter normalen Umständen ist ein Brief aus Ultima ungefähr drei Wochen unterwegs, bis er in der Hauptstadt eintrifft. Falls ich seit anderthalb Monaten hier bin, hat er vielleichtheute die Antwort bekommen. Lassen Sie den Verräter seine Geschichte schriftlich festhalten, könnten sie ihm gesagt haben, dann haben wir freie Hand, ihn aus dem Weg zu räumen, wie es uns passt.
    Das ist die eine Möglichkeit. Es könnte jedoch sein, dass ich meine Bedeutung überschätze und dass der Colonel nur ein Spielchen mit mir treibt. Wer weiß – vielleicht will er sich nur am Schauspiel meiner Qualen delektieren? In einer Stadt wie Ultima gibt es nur wenig Zerstreuung, und wer nicht über Phantasie genug verfügt, sich etwas einfallen zu lassen, kann hier ohne weiteres vor Langeweile den Verstand verlieren. Ich stelle mir vor, wie der Colonel und seine Geliebte nachts im Bett sitzen, wie er ihr meinen Text vorliest und die beiden sich vor Lachen ausschütten über mein klägliches Gefasel. Ist das nicht amüsant? Ist das nicht eine willkommene Zerstreuung, so ein ruchloses Amüsement? Wenn ich ihn hinreichend bei Laune halte, lässt er mich vielleicht ewig weiterschreiben, und nach und nach werde ich so zu seinem Privatclown, zu seinem Hofnarren, der ihm in endlosen Tintenströmen von seinen lustigen Stürzen erzählt. Und selbst wenn er meiner Geschichten müde werden und mich töten lassen sollte, das Manuskript würde immerhin überleben. Und das wäre dann seine Trophäe – ein weiterer Schädel für seine Sammlung.
    Dennoch fällt es mir schwer, die Freude zu unterdrücken, die ich in diesem Augenblick empfinde. Wasauch immer Colonel De Vega dazu bewogen haben mag, welche Teufeleien und Demütigungen er für mich bereithalten mag: Ich kann aufrichtig sagen, dass ich zurzeit glücklicher bin als jemals seit meiner Festnahme. Ich sitze am Tisch und lausche dem Schaben der Feder auf dem Papier. Ich halte inne. Ich tauche die Feder in das Tintenfass und sehe dann dem Entstehen der schwarzen Schriftzeichen zu, während ich die Hand langsam von links nach rechts bewege. Ich gelange an den Rand und kehre zurück, und wenn die Schrift dünner wird, halte ich von neuem inne und tauche die Feder in das Tintenfass. So geht es weiter, die ganze Seite hinunter, und jede Gruppe von Zeichen ist ein Wort, und jedes Wort ist ein Klang in meinem Kopf, und mit jedem Wort, das ich schreibe, höre ich, obwohl meine Lippen schweigen, den Klang meiner eigenen Stimme.
    Unmittelbar nachdem der Sergeant die Tür verschlossen hatte, nahm ich den Tisch, trug ihn an die nach Westen gelegene Wand und stellte ihn direkt unter das Fenster. Dann holte ich den Stuhl, stellte ihn auf den Tisch und kletterte hinauf – erst auf den Tisch, dann auf den Stuhl. Ich wollte herausfinden, ob ich meine Finger um die Gitterstäbe des Fensters legen kann, in der Hoffnung, mich daran hochziehen und lange genug dort oben halten zu können, um einen Blick nach draußen zu werfen. Es gelang mir trotz äußerster Anstrengung nicht, mein Ziel mit den Fingern zu erreichen.Ich wollte aber nicht aufgeben, und daher zog ich mein Hemd aus und warf es an die Gitterstäbe, um es, falls möglich, dahinter einzufädeln und mich an den herabhängenden Ärmeln hinaufzuziehen. Aber das Hemd war nicht lang genug, und ohne irgendein Werkzeug, mit dem ich den Stoff um die Eisenstäbe hätte herumschieben können (einen Stock, einen Besenstiel oder auch nur einen Zweig), brachte ich nichts anderes zustande, als das Hemd wie eine weiße Flagge der Kapitulation hin und her zu schwenken.
    Letztlich spielt es wohl keine Rolle, wenn ich auch diesen Traum ad acta lege. Da ich nicht den ganzen

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