Reisen im Skriptorium
wenn die Bilder dieselben Leute darstellen, deren Gesichter er in der Szene, die sich in seinem Kopf abspielt, nicht identifizieren kann? Ist dem so, dann sind die Phantome, die er beobachtet, eher Erinnerungen als Chimären, Erinnerungen an reale Menschen – denn wann hätte jemals jemand einen Menschen fotografiert, den es gar nicht gab? Mr. Blank weiß, dass seine Theorie durch nichts zu stützen ist, dass es sich nur um die wildeste aller wilden Spekulationen handelt, aber es muss doch irgendeinen Grund geben, sagt er sich, irgendeine Ursache, irgendein Prinzip, woraus sich erklären lässt, was mit ihm geschieht, womit sich die Tatsache begründen lässt, dass er sich in diesem Raum mit diesen Fotografien und diesen vier Manuskriptstapeln befindet – warum also nichtein wenig weiterforschen, um herauszufinden, ob an diesem blinden Stochern im Dunkeln vielleicht nicht doch etwas Wahres ist?
Er vergisst die zwei ins Fenster geschlagenen Nägel, vergisst die Tür und die Frage, ob sie von außen verschlossen ist oder nicht, schiebt sich zum Schreibtisch zurück, nimmt die Fotos und legt sie vor sich hin. Anna liegt natürlich oben, und er wendet einige Augenblicke daran, sie noch einmal zu betrachten, ihr unglückliches, aber schönes junges Gesicht zu studieren, ihr tief in die dunklen, glühenden Augen zu sehen. Nein, sagt er zu sich, wir waren nie verheiratet. Ihr Mann hieß David Zimmer, und jetzt ist Zimmer tot.
Er legt das Foto von Anna beiseite und schaut sich das nächste an. Wieder eine Frau, vielleicht Mitte zwanzig, hellbraunes Haar und ruhige, aufmerksame Augen. Die untere Hälfte ihres Körpers ist nicht zu sehen, denn sie steht in einer halbgeöffneten Tür, die zu einem New Yorker Apartment zu gehören scheint, und es sieht aus, als habe sie sie gerade aufgemacht, um einen Besucher einzulassen, und trotz des wachsamen Ausdrucks in ihren Augen haben ihre Mundwinkel sich zum Anflug eines Lächelns hochgezogen. Mr. Blank durchzuckt es, als kenne er sie, doch als er versucht, sich ihren Namen ins Gedächtnis zu rufen, kommt da nichts – nicht nach zwanzig Sekunden, nicht nach vierzig Sekunden, nicht nach einer Minute. Da er auf Annas Namen so rasch gestoßen war, hatte er angenommen, bei den anderenwerde es ihm ebenso ergehen. Dies aber ist offenbar nicht der Fall.
Er betrachtet zehn weitere Bilder mit dem gleichen enttäuschenden Ergebnis. Ein alter Mann im Rollstuhl, dünn und zierlich wie ein Sperling, eine schwarze Blindenbrille im Gesicht. Eine grinsende Frau in Flapperkleid und Glockenhut im Stil der zwanziger Jahre, einen Drink in einer Hand und eine Zigarette in der anderen. Ein erschreckend fettleibiger Mann mit gewaltigem haarlosem Schädel und einer Zigarre zwischen den Zähnen. Noch eine junge Frau, diesmal eine Chinesin im Trikot einer Balletttänzerin. Ein dunkelhaariger Mann mit gewichstem Schnurrbart, herausgeputzt mit Frack und Zylinder. Ein junger Mann, schlafend im Gras, offenbar in einem Park. Ein älterer Mann, Mitte fünfzig, auf einem Sofa liegend, die Beine auf einem Kissenstapel. Ein bärtiger, ausgemergelter Obdachloser, der, einen großen Köter im Arm, auf dem Bürgersteig sitzt. Ein korpulenter Schwarzer, Mitte sechzig, der ein Warschauer Telefonbuch von 1937/38 in die Höhe hält. Ein schlanker junger Mann, fünf Karten in der Hand und einen Stapel Pokerchips vor sich auf dem Tisch.
Jeder weitere Fehlschlag lässt Mr. Blank verzagter werden und ein wenig mehr an seinen Chancen zweifeln, auf dem nächsten Bild etwas Vertrautes zu entdecken – bis er schließlich so leise, dass das Mikrophon es nicht aufzeichnen kann, etwas vor sich hinmurmelt und die Fotografien beiseiteschiebt.
Knapp eine Minute lang schaukelt er auf dem Stuhl herum, ganz darauf konzentriert, sein geistiges Gleichgewicht wiederzuerlangen und die Niederlage wegzustecken. Dann greift er, ohne weiter darüber nachzudenken, nach dem Typoskript und setzt seine Lektüre fort:
Mein Name ist Sigmund Graf. Ich wurde vor einundvierzig Jahren in Luz geboren, einem Textilzentrum im Nordwesten der Provinz Faux-Lieu; bis zu meiner Festnahme durch Colonel De Vega arbeitete ich in der demographischen Abteilung des Büros für Innere Angelegenheiten. Als junger Mann erwarb ich an der All Souls University einen Bachelor in klassischer Literatur und diente anschließend als Nachrichtenoffizier im Krieg an der Südostgrenze, wo ich an der Schlacht teilnahm, die zur Vereinigung der Fürstentümer Petit-Lieu
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