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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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und Merveil führte. Ich wurde im Range eines Captains ehrenhaft entlassen und für meine Verdienste beim Abfangen und Entschlüsseln feindlicher Funksprüche mit einem hohen Orden ausgezeichnet. Nach meiner Entlassung kehrte ich in die Hauptstadt zurück und trat im Büro eine Stelle als Feldkoordinator und Rechercheur an. Bis zu meiner Entsendung ins Fremde Territorium arbeitete ich dort zwölf Jahre lang. Mein letzter offizieller Titel war der des Zweiten stellvertretenden Direktors.
    Wie jeder Bürger der Konföderation habe ich manches Leid erdulden müssen, lange Phasen der Gewalt und Umwälzung erlebt und tiefe Wunden an meiner Seele davongetragen. Ich war noch keine vierzehn, alsdie Unruhen an der Sanctus-Akademie in Beauchamp zum Ausbruch des Sprachenkriegs in Faux-Lieu führten, und zwei Monate nach der Invasion sah ich während der Plünderung von Luz meine Mutter und meinen jüngeren Bruder bei lebendigem Leibe verbrennen. Mein Vater und ich waren unter den siebentausend, die den Exodus in die Nachbarprovinz Neu Welt mitmachten. Für die tausend Kilometer brauchten wir über zwei Monate, und als wir unser Ziel erreichten, war unsere Zahl um ein Drittel geschrumpft. Auf den letzten hundertsechzig Kilometern war mein Vater von Krankheit so geschwächt, dass ich ihn auf dem Rücken tragen musste, halb blind durch Schlamm und Winterregen taumelnd, bis wir die Außenbezirke von Nachtburg erreichten. Sechs Monate lang bettelten wir in den Straßen dieser grauen Stadt, um uns nur am Leben zu erhalten, und wir waren schon kurz vor dem Verhungern, als uns ein Darlehen von Verwandten aus dem Norden schließlich die Rettung brachte. Danach besserten sich unsere Umstände, aber so erfolgreich mein Vater in den Jahren darauf auch wirtschaften mochte, er hat sich von jenen entbehrungsreichen Monaten nie mehr ganz erholen können. Als er vor zehn Sommern mit fünfundfünfzig Jahren starb, hatten seine Erfahrungen ihn so sehr altern lassen, dass er aussah wie ein Siebzigjähriger.
    Es gab aber noch mehr Leid. Vor anderthalb Jahren schickte mich das Büro auf eine Expedition zu den Unabhängigen Gemeinden der Provinz Tierra Blanca. KeinenMonat nach meinem Aufbruch fegte die Choleraepidemie über die Hauptstadt hinweg. Heute wird diese Seuche von vielen als Fluch der Geschichte bezeichnet, und wenn man bedenkt, dass sie gerade dann zuschlug, als die so lange und sorgfältig geplanten Vereinigungsfeierlichkeiten beginnen sollten, kann man verstehen, wie sie als ein böses Zeichen gedeutet werden konnte, als Urteil über Wesen und Zweck der Konföderation als solcher. Ich persönlich bin nicht dieser Meinung, wenngleich die Epidemie auch mein Leben auf Dauer verändert hat. Von allen Nachrichten aus der Stadt abgeschnitten, bereiste ich in den nächsten viereinhalb Monaten die abseits und verstreut im Süden gelegenen Berggemeinden und widmete mich der Erforschung der verschiedenen religiösen Sekten, die in dieser Gegend Fuß gefasst hatten. Als ich im August zurückkehrte, war die Krise bereits überstanden – meine Frau und meine fünfzehnjährige Tochter waren jedoch verschwunden. Die Mehrheit unserer Nachbarn im Bezirk Closterham waren entweder aus der Stadt geflohen oder der Krankheit erlegen, doch von denen, die geblieben waren, konnte sich kein Einziger daran erinnern, die beiden gesehen zu haben. Das Haus war unberührt, und ich fand darin nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass die Krankheit in seine Mauern eingedrungen war. Auch eine gründliche Untersuchung sämtlicher Zimmer half mir nicht, das Geheimnis zu lüften, wie oder wann sie das Haus verlassen haben könnten. Es fehlten weder Kleider nochSchmuck, keine hastig weggeworfenen Gegenstände lagen auf dem Fußboden. Das Haus sah noch genauso aus, wie ich es fünf Monate zuvor zurückgelassen hatte, nur dass meine Frau und meine Tochter nicht mehr da waren.
    Wochenlang durchkämmte ich die Stadt nach Hinweisen auf ihren Aufenthalt, und meine Verzweiflung wuchs mit jedem weiteren fehlgeschlagenen Versuch, an Informationen zu gelangen, die mich auf ihre Fährte hätten bringen können. Als Erstes sprach ich mit Freunden und Kollegen, und nachdem ich den Kreis der Vertrauten erschöpft hatte (unter anderem die weiblichen Bekannten meiner Frau, die Eltern der Klassenkameradinnen meiner Tochter, die Händler und Ladenbesitzer in unserem Stadtbezirk), weitete ich meine Nachforschungen auch auf Fremde aus. Ausgerüstet mit Porträts meiner Frau und meiner

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