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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Chatterton erwies sich als unglücklich. Fast von Beginn an versagte er ihr die Treue, und als sie nach vier Jahren im Kindbett starb, kam er recht bald über den Verlust hinweg. Nach außen hin bekundete er großen Kummer und hielt sich an alle Trauerrituale, und doch hatte ich das Gefühl, dass er im Grunde eher erleichtert als verzweifelt war. Danach sahen wir ihn recht häufig, viel öfter als in den Anfangsjahren unserer Ehe. Zu seiner Ehre sei gesagt, dass Land eine tiefe Zuneigung zu unserer kleinen TochterMarta fasste, ihr bei jedem Besuch Geschenke mitbrachte und sie mit so viel Liebe überschüttete, dass er für sie zu einer sagenhaften Lichtgestalt wurde, zum großartigsten Mann, der je auf Erden wandelte. Er benahm sich bei uns stets mit äußerstem Anstand, und dennoch, wer kann es mir übelnehmen, wenn ich mich zuweilen fragte, ob die Flammen, die einst im Herzen meiner Frau für ihn gelodert hatten, wirklich vollkommen erloschen waren? Gewiss, es geschah nie etwas Unziemliches – weder Worte noch Blicke zwischen den beiden, die meine Eifersucht hätten erregen können   –, aber was sollte ich nach der Choleraepidemie, die sie angeblich beide dahingerafft hatte, aus der Tatsache machen, dass es von Land jetzt hieß, er sei am Leben, und dass ich trotz unermüdlicher Anstrengungen, etwas über Beatrices Schicksal zu erfahren, nicht einen einzigen Zeugen aufgetrieben hatte, der sie zur Zeit der Seuche in der Hauptstadt gesehen hatte? Ohne meinen verhängnisvollen Streit mit Giles McNaughton, der von seinen hässlichen Bemerkungen über meine Frau entfacht worden war, hätte ich mich auf dem Weg nach Ultima sehr wahrscheinlich nicht von finsteren Verdächtigungen quälen lassen. Aber was, wenn Beatrice und Marta zusammen mit Land davongelaufen wären, während ich in den Unabhängigen Gemeinden der Provinz Tierra Blanca unterwegs gewesen war?
    Es schien unmöglich, aber wie Joubert am Abend vor meiner Abreise gesagt hatte: nichts war unmöglich –und gab es jemanden auf der Welt, der das besser wissen konnte als ich?
    Die Räder der Kutsche drehten sich weiter und weiter, und als ich die Außenbezirke von Wallingham erreichte und damit die Hälfte des Weges hinter mich gebracht hatte, war mir bereits klar, dass ich mich einem zweifachen Schrecken näherte. Für den Fall, dass Land die Konföderation verraten hatte, lautete die Anweisung des Ministers, ihn unter Arrest zu stellen und in Ketten zur Hauptstadt zurückzubringen. Diese Vorstellung war schon grauenvoll genug, aber sollte mein Freund auch mich verraten und mir Frau und Tochter genommen haben, war ich entschlossen, ihn zu töten. Das stand unumstößlich fest, ganz gleich, welche Konsequenzen es für mich haben würde. Gott möge mich dafür in die Hölle stoßen, aber um Ernestos und meiner selbst willen betete ich, dass Beatrice doch schon gestorben sei.

 
    Mit verächtlichem Schnauben wirft Mr.   Blank das Typoskript auf den Schreibtisch, er ist frustriert und verärgert, dass man ihn genötigt hat, eine Erzählung zu lesen, die nicht abgeschlossen ist, ein unfertiges Werk, das kaum über den Anfang hinaus gediehen ist, ein bloßes Fragment. Was für ein Mist, sagt er laut, dann schwenkt er auf seinem Stuhl um hundertachtzig Grad herum und fährt zur Badezimmertür. Er hat Durst. Da er keine Getränke vorrätig hat, kann er sich nur ein Glas Wasser aus demHahn überm Waschbecken holen. Er verlässt den Stuhl, öffnet die Tür und schlurft hinein, um genau das zu tun, und ärgert sich dabei immer noch, mit dieser armseligen Missgeburt von einer Geschichte so viel Zeit vergeudet zu haben. Er trinkt ein Glas Wasser und dann noch eins, wobei er sich mit der linken Hand am Waschbecken abstützt und einen unglücklichen Blick auf die schmutzige Wäsche in der Badewanne wirft. Da Mr.   Blank nun ohnehin im Bad ist, überlegt er, ob er zur Sicherheit nicht doch noch einmal zu pinkeln versuchen sollte. Aus Furcht, wieder hinzufallen, wenn er zu lange aufrecht stehen bleibt, lässt er die Pyjamahose um seine Knöchel fallen und setzt sich auf die Toilette. Wie eine Frau, denkt er, plötzlich amüsiert von dem Gedanken, dass sein Leben einen ganz anderen Lauf genommen hätte, wenn er nicht als Mann geboren worden wäre. Seit dem Sturz vorhin ist mit seiner Blase nicht mehr viel los, aber schließlich gelingt es ihm doch, ein paar mickrige Spritzer abzusondern. Er zieht im Aufstehen die Pyjamahose mit hoch, spült, wäscht sich die Hände,

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