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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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trocknet eben diese Hände an einem Handtuch, dreht sich um und öffnet die Tür – und sieht einen Mann in dem Raum stehen. Wieder eine verpasste Gelegenheit, denkt Mr.   Blank und erkennt, dass der Lärm der Toilettenspülung die Geräusche beim Eintreten des Fremden übertönt haben muss, sodass die Frage, ob die Tür von außen abgeschlossen ist oder nicht, weiterhin unbeantwortet bleibt.
    Mr.   Blank setzt sich auf den Stuhl und macht eineabrupte Halbdrehung, um sich den Neuankömmling anzusehen, einen großgewachsenen Mann Mitte dreißig, bekleidet mit Bluejeans und einem roten Button-Down-Hemd, dessen Kragen offensteht. Dunkles Haar, dunkle Augen und ein hageres Gesicht, das aussieht, als habe es seit Jahren nicht mehr gelächelt. Kaum jedoch hat Mr.   Blank diese Beobachtung gemacht, lächelt der Mann ihn an und sagt: Hallo, Mr.   Blank. Wie geht es Ihnen heute?
    Kenne ich Sie?, fragt Mr.   Blank.
    Haben Sie sich das Bild nicht angesehen?, erwidert der Mann.
    Welches Bild?
    Das Foto auf Ihrem Schreibtisch. Das zwölfte von oben in dem Stapel. Erinnern Sie sich nicht?
    Oh, das. Doch. Ich glaube schon. Ich sollte es mir ansehen, richtig?
    Und?
    Ich habe es vergessen. War zu beschäftigt, diese blöde Geschichte zu lesen.
    Kein Problem, sagt der Mann; er dreht sich um, geht zum Schreibtisch, nimmt die Fotos und blättert den Stapel durch, bis er das fragliche Bild gefunden hat. Er legt die anderen Fotos auf den Tisch zurück, geht zu Mr.   Blank und reicht ihm das Porträt. Sehen Sie, Mr.   Blank?, sagt der Mann. Das bin ich.
    Dann sind Sie also der Arzt, sagt Mr.   Blank. Samuel   … Samuel Soundso.
    Farr.
    Stimmt. Samuel Farr. Jetzt erinnere ich mich. Sie haben irgendwas mit Anna zu tun, oder?
    Früher. Vor sehr langer Zeit.
    Mr.   Blank packt das Foto fest mit beiden Händen, hebt es dicht vor sein Gesicht und studiert es gut zwanzig Sekunden lang. Farr, der auf dem Bild fast so aussieht wie jetzt, sitzt in einem Garten, er trägt einen weißen Arztkittel und hält zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand eine brennende Zigarette.
    Ich kapiere das nicht, sagt Mr.   Blank, plötzlich von einer neuen Angstattacke heimgesucht, die in seiner Brust brennt wie glühende Kohle und seinen Magen zur Faust zusammenballt.
    Stimmt was nicht?, fragt Farr. Ist doch gut getroffen, oder?
    Perfekt getroffen. Sie sind jetzt vielleicht ein oder zwei Jahre älter, aber der Mann auf dem Bild – das sind eindeutig Sie.
    Ist das ein Problem?
    Nur dass Sie so jung sind, sagt Mr.   Blank mit bebender Stimme und drängt mühsam die Tränen zurück, die ihm in die Augen treten wollen. Auch Anna ist auf ihrem Foto so jung. Aber sie hat mir gesagt, es sei vor über dreißig Jahren aufgenommen worden. Jetzt ist sie kein Mädchen mehr. Ihre Haare sind grau, ihr Mann ist tot, und die Zeit hat sie zur alten Frau gemacht. An Ihnen ist das spurlos vorübergegangen, Farr. Sie waren mit ihrzusammen. Sie waren in diesem schrecklichen Land, in das ich sie geschickt habe, aber das ist über dreißig Jahre her, und Sie haben sich nicht verändert.
    Farr zögert, offenbar unschlüssig, was er Mr.   Blank antworten soll. Er setzt sich auf die Bettkante, spreizt die Hände auf den Knien und starrt den Fußboden an, womit er ungewollt dieselbe Haltung einnimmt, in welcher der alte Mann zu Beginn dieses Berichts angetroffen wurde. Beide schweigen längere Zeit. Schließlich sagt Farr mit leiser Stimme: Ich darf nicht darüber reden.
    Mr.   Blank sieht ihn entsetzt an. Sie sagen mir, dass Sie tot sind, ruft er aus. Das ist es doch, oder? Sie haben es nicht geschafft. Anna hat überlebt, aber Sie nicht.
    Farr hebt lächelnd den Kopf. Sehe ich tot aus, Mr.   Blank?, fragt er. Wir alle machen natürlich schlimme Phasen durch, aber ich bin genauso lebendig wie Sie, glauben Sie mir.
    Nur, wer kann denn sagen, ob ich lebendig bin oder nicht?, fragt Mr.   Blank grimmig zurück. Vielleicht bin ich ja auch tot. Nach dem, wie es heute Vormittag bei mir gelaufen ist, würde mich das nicht überraschen. Nehmen wir nur einmal
die Behandlung
. Wahrscheinlich ist das nur ein anderes Wort für Tod.
    Sie erinnern sich jetzt nicht mehr daran, sagt Farr; er steht vom Bett auf und nimmt Mr.   Blank das Foto aus der Hand. Aber das Ganze war Ihre Idee. Wir tun nur, worum Sie uns gebeten haben.
    Quatsch. Ich will einen Anwalt sprechen. Der wird mich hier rausholen. Auch ich habe Rechte.
    Das lässt sich arrangieren, antwortet Farr und trägt das Foto

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