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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Graf, wenn er nach Ultima kommt?
    Er geht zum Colonel und gibt ihm Jouberts Schreiben, aber da De Vega in Lands Pläne eingeweiht ist, reagiert er darauf, als habe man ihm den Brief eines Kindes überreicht. Graf erinnert ihn daran, dass der Anordnung eines Abgesandten der Zentralregierung Folge zu leisten ist, aber der Colonel sagt, er stehe in Dienstendes Kriegsministeriums und habe strikten Befehl, für die Einhaltung des Sperrzonen-Erlasses zu sorgen. Graf bringt die Gerüchte zur Sprache, nach denen Land und hundert Soldaten in die Fremden Territorien eingedrungen sind, aber De Vega gibt sich ahnungslos. Graf erklärt, dann bleibe ihm nichts anderes übrig, als an das Kriegsministerium zu schreiben und um eine Ausnahmegenehmigung zu bitten. Tun Sie das, sagt De Vega, aber ein Brief in die Hauptstadt und wieder zurück braucht sechs Wochen, und was wollen Sie bis dahin tun? Mir die Sehenswürdigkeiten von Ultima ansehen, sagt Graf, und auf die Antwort warten – wobei er ganz genau weiß, dass der Colonel den Brief niemals ans Ziel gelangen lassen wird, dass man ihn abfangen wird, sobald er ihn auf den Weg gebracht hat.
    Warum ist De Vega in den Plan eingeweiht? Soweit ich das beurteilen kann, scheint er ein loyaler Offizier zu sein.
    Er ist loyal. Und das Gleiche gilt für Ernesto Land und seine hundert Soldaten in den Fremden Territorien.
    Ich kann Ihnen nicht folgen.
    Die Konföderation ist ein fragiler, neu gegründeter Staat, gebildet aus zuvor unabhängigen Kolonien und Fürstentümern, und wenn man diese zerbrechliche Einheit festigen und die Leute zusammenschweißen will, was liegt da näher, als einen gemeinsamen Feind zu erfinden und einen Krieg anzufangen? In diesem Fall hat man sich die Primitiven ausgesucht. Land ist ein Doppelagent,den man mit dem Auftrag in die Territorien geschickt hat, unter den dort lebenden Stämmen einen Aufstand anzufachen. Nicht sehr verschieden von dem, was wir nach dem Bürgerkrieg mit den Indianern getan haben. Die Eingeborenen aufhetzen und dann abschlachten.
    Aber wie kann Graf wissen, dass De Vega ebenfalls eingeweiht ist?
    Weil er nicht genug Fragen gestellt hat. Er hätte zumindest ein wenig mehr Neugierde heucheln müssen. Und dann die Tatsache, dass er und Land beide für das Kriegsministerium arbeiten. Joubert und seine Leute im Büro für Innere Angelegenheiten wissen natürlich nichts von dem Komplott, aber das ist vollkommen normal. Die einzelnen Regierungsorgane haben ständig Geheimnisse voreinander.
    Und dann?
    Joubert hat Graf die Namen von drei Männern genannt, von Spionen, die in Ultima für das Büro arbeiten. Keiner von ihnen weiß von der Existenz der anderen, aber zusammen bilden sie die Quelle für Jouberts Informationen über Land. Nach seinem Gespräch mit dem Colonel begibt sich Graf auf die Suche nach ihnen. Dabei findet er nach und nach heraus, dass alle drei, wie man so sagt, versetzt worden sind. Denken wir uns Namen für sie aus. Es ist immer interessanter, wenn eine Figur einen Namen hat. Captain   … hmmm   … Lieutenant-Major Jacques Dupin wurde vor zwei Monaten aufeinen Posten im Hochgebirge versetzt. Dr.   Carlos   … Woburn   … hat sich im Juni nach einem Ausbruch der Pocken freiwillig zum Einsatz im Norden gemeldet. Und Declan Bray, der wohlhabendste Friseur von Ultima, starb Anfang August an Lebensmittelvergiftung. Ob hinter alldem Zufall oder Absicht steckt, ist unmöglich zu ermitteln; auf jeden Fall ist der arme Graf jetzt vollständig vom Büro abgeschnitten, ohne einen einzigen Verbündeten oder Vertrauten, ganz auf sich allein gestellt in diesem tristen, gottverlassenen Winkel der Welt.
    Sehr schön. Die Namen sind eine gute Idee, Mr.   Blank.
    Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Hab mich den ganzen Tag noch nicht so auf Draht gefühlt.
    Alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen, nehme ich an.
    Was soll das heißen?
    Nichts. Nur dass Sie gut in Form sind und allmählich in Schwung kommen. Wie geht es weiter?
    Graf treibt sich über einen Monat lang in Ultima herum, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie er die Grenze überqueren und in die Territorien gelangen kann. Zu Fuß geht es schließlich nicht. Er braucht ein Pferd, ein Gewehr, Proviant, wahrscheinlich auch einen Lastesel. Unterdessen wird er, da er sonst nichts zu tun hat, ins gesellschaftliche Leben von Ultima hineingezogen – falls man das so nennen kann, denn immerhin handelt es sich ja bloß um eine elendekleine Garnisonsstadt am Ende der

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