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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Welt. Ausgerechnet der Heuchler De Vega nimmt sich seiner mit viel Getue an. Er lädt Graf zu Dinnerpartys ein – langweilige Veranstaltungen, die von Offizieren, städtischen Beamten und Kaufleuten mit ihren Frauen und Freundinnen und so weiter besucht werden   –, führt ihn in die besten Bordelle und nimmt ihn sogar ein paarmal auf seine Jagdausflüge mit. Und dann ist da noch die Geliebte des Colonels   … Carlotta   … Carlotta Hauptmann   … ein verkommenes, lüsternes Weibsbild, die sprichwörtliche geile Witwe, deren Lebenszweck aus Ficken und Kartenspielen besteht. Der Colonel ist natürlich verheiratet, und er hat zwei Kinder, und da er Carlotta nur ein- oder zweimal die Woche besuchen kann, hat sie durchaus nichts gegen Abenteuer mit auch noch anderen Männern einzuwenden. Es dauert nicht lang, da hat Graf eine Affäre mit ihr. Als sie eines Nachts im Bett liegen, fragt er sie nach Land, und Carlotta bestätigt die Gerüchte. Ja, sagt sie, Land und seine Leute sind vor etwas über einem Jahr in die Territorien eingedrungen. Warum erzählt sie ihm das? Ihre Motive sind nicht ganz klar. Vielleicht ist sie in Graf verknallt, vielleicht hat der Colonel sie auch aus nur ihm bekannten Gründen dazu angestiftet. Dieser Teil muss mit Sorgfalt behandelt werden. Der Leser darf sich nie sicher sein, ob Carlotta Graf in eine Falle lockt oder ob sie einfach zu geschwätzig ist. Vergessen Sie nicht: Das ist Ultima, der ödeste Außenposten der Konföderation, und Sex, Spiel und Klatschsind so ziemlich die einzigen Vergnügungen, die dort zu haben sind.
    Wie schafft es Graf über die Grenze?
    Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich durch Bestechung. Das spielt aber auch keine Rolle. Wichtig ist nur, dass er eines Nachts über die Grenze geht; und damit beginnt der zweite Teil der Geschichte. Wir sind jetzt in der Wüste. Ringsum alles öd und leer, oben der grausame blaue Himmel, heiß und grell, und dann, wenn die Sonne untergeht, eine Kälte, dass einem das Mark in den Knochen gefriert. Graf reitet mehrere Tage lang nach Westen; sein Pferd, ein Fuchs, trägt den Namen Whitey, so genannt wegen eines weißen Flecks zwischen seinen Augen, und da Graf sich noch von seinem Besuch vor zwölf Jahren gut in der Gegend auskennt, begibt er sich geradewegs zum Stamm der Gangi, mit denen er auf seinen früheren Reisen am besten ausgekommen ist und die er als die friedfertigsten aller primitiven Nationen schätzen gelernt hat. Eines späten Vormittags erreicht er endlich ein Lager der Gangi, ein kleines Dorf von fünfzehn oder zwanzig Hogans, woraus man auf eine Bewohnerzahl von etwa siebzig bis hundert Leuten schließen kann. Ungefähr dreißig Meter vom Rand der Siedlung entfernt, bleibt er stehen und ruft, um den Einwohnern seine Ankunft anzuzeigen, einen Gruß im örtlichen Gangi-Dialekt – aber niemand antwortet. Plötzlich beunruhigt, treibt Graf sein Pferd an und reitet ins Zentrum des Dorfes, wokeinerlei Anzeichen für menschliches Leben zu bemerken sind. Er steigt ab, geht zu einem der Hogans und schiebt die Büffelhaut zur Seite, die als Tür der kleinen Behausung dient. Als er eintritt, empfängt ihn der überwältigende Gestank des Todes, der ekelhafte Geruch verwesender Leichen, und dort, im trüben Licht des Hogan, erblickt er ein Dutzend hingemordeter Gangi   – Männer, Frauen und Kinder   –, alle kaltblütig erschossen. Er taumelt an die frische Luft hinaus, hält sich ein Taschentuch vor die Nase und inspiziert dann eins nach dem anderen alle Hogans dieses Dorfes. Die Bewohner sind tot, ausnahmslos alle sind tot, und unter diesen Toten entdeckt Graf eine Reihe von Leuten, mit denen er sich vor zwölf Jahren angefreundet hat. Die Mädchen, die inzwischen zu jungen Frauen herangewachsen sind, die Jungen, die inzwischen zu jungen Männern herangewachsen sind, die Eltern, die inzwischen Großeltern geworden sind, und kein Einziger von ihnen atmet mehr, kein Einziger wird in alle Ewigkeit auch nur noch einen Tag älter werden.
    Wer war dafür verantwortlich? Waren es Land und seine Leute?
    Geduld, Herr Doktor. So etwas darf man nicht überstürzen. Hier geht es um Brutalität und Tod, um Mord an Unschuldigen, und Graf steht noch immer unter dem Schock seiner Entdeckung. Er ist nicht in der Verfassung, das Geschehene zu verarbeiten, und selbst wenn er das wäre: Warum sollte er auf den Gedanken kommen,dass Land etwas damit zu tun haben könnte? Er geht von der Annahme aus, dass sein alter Freund einen

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