Reisen im Skriptorium
Gefangene einen Fluchtversuch unternehmen sollte, nicht die Mühe gemacht hat, sie wieder abzuschließen. Ja, sagt der alte Mann zu sich selbst, das dürfte die Antwort sein. Und er, der überaus pessimistisch ist, was seine Zukunft betrifft, findet sich wieder einmal damit ab, in einem Zustand ständiger Ungewissheit zu leben.
Hallo, Sam, sagt die Frau. Entschuldige, wenn ich hier so hereinplatze, aber es ist Zeit für Mr. Blanks Mittagessen.
Hi, Sophie, sagt Farr, blickt dabei auf seine Uhr und erhebt sich vom Bett. Ich hatte nicht gemerkt, dass es schon so spät ist.
Was soll das?, fragt Mr. Blank in gereiztem Tonfall und schlägt mit der Faust auf die Armlehne seines Stuhls. Ich will die Geschichte weitererzählen.
Die Zeit ist abgelaufen, sagt Farr. Für heute ist die Sprechstunde beendet.
Aber ich bin noch nicht fertig!, ruft der alte Mann. Ich bin noch nicht am Ende!
Ich weiß, erwidert Farr, aber wir arbeiten hier nach einem festen Stundenplan, daran lässt sich nichts ändern. Wir machen morgen mit der Geschichte weiter.
Morgen?, schreit Mr. Blank ungläubig und verwirrtzugleich. Wovon reden Sie? Morgen werde ich mich an nichts erinnern, was ich heute gesagt habe. Das wissen Sie. Sogar ich weiß das, auch wenn ich sonst kein verdammtes bisschen weiß.
Farr geht zu Mr. Blank hinüber und klopft ihm auf die Schulter, eine klassische Beschwichtigungsgeste für jemanden, der in der feinen Kunst des Umgangs mit Kranken erfahren ist. Na schön, sagt er, ich werde sehen, was ich tun kann. Ich muss erst die Genehmigung einholen, aber wenn Sie möchten, dass ich heute Abend noch einmal komme, lässt sich das wahrscheinlich einrichten. Gut?
Gut, murmelt Mr. Blank ein wenig besänftigt von der Freundlichkeit und Anteilnahme in Farrs Stimme.
Na, ich geh dann jetzt, erklärt der Arzt. Bis später.
Ohne ein weiteres Wort winkt er Mr. Blank zum Abschied, und die Frau namens Sophie geht zur Tür, öffnet sie, tritt über die Schwelle und macht die Tür hinter ihm zu. Mr. Blank hört die Tür ins Schloss fallen, sonst nichts. Kein Scharren eines Riegels, kein Drehen eines Schlüssels, und er fragt sich jetzt, ob es sich nicht einfach um eine dieser Türen handelt, die sich automatisch verschließen, wenn man sie zumacht.
Unterdessen hat die Frau namens Sophie den Servierwagen ans Bett geschoben und die diversen Teller mit Mr. Blanks Mittagessen von der unteren Etage des Wagens auf die obere gestellt. Mr. Blank bemerkt, dass es sich um insgesamt vier Teller handelt, die jeweils mit einemrunden Metalldeckel mit einem Loch in der Mitte abgedeckt sind. Der Anblick dieser Deckel erinnert ihn an Mahlzeiten, die man auf Hotelzimmern serviert bekommt, und das wiederum bringt ihn auf die Frage, wie viele Nächte er im Lauf seines Lebens in Hotelzimmern verbracht haben mag. Zu viele, die kann man nicht mehr zählen, hört er eine Stimme in sich sagen, eine Stimme, die nicht die seine ist, zumindest keine Stimme, die er als die seine erkennt, und dennoch, da sie sich mit solcher Autorität und Überzeugung vernehmen lässt, nimmt er an, dass sie wohl die Wahrheit sagt. Wenn das zutrifft, denkt er, muss er in seinem Leben viel gereist sein, mit Autos, Zügen und Flugzeugen von einem Ort zum andern; und ja, spricht er weiter zu sich selbst, Flugzeuge haben ihn in die ganze Welt gebracht, in viele Länder auf mehreren Kontinenten, und zweifellos hatten diese Reisen etwas mit den Aufträgen zu tun, mit denen er alle diese Leute losgeschickt hatte, diese bedauernswerten Leute, die seinetwegen so viel zu leiden hatten, und das ist bestimmt der Grund, warum er jetzt in diesen Raum eingesperrt ist, nirgendwohin mehr reisen darf, in diesen vier Wänden eingeschlossen ist: Das ist die Strafe für den schweren Schaden, den er anderen zugefügt hat.
Mitten aus dieser flüchtigen Träumerei reißt ihn eine Frauenstimme. Möchten Sie jetzt zu Mittag essen?, fragt sie, und als er den Kopf hebt, um sie anzusehen, erkennt er, dass er sich nicht mehr an ihren Namen erinnern kann. Sie ist Ende vierzig, vielleicht auch Anfangfünfzig, und so zierlich und attraktiv ihr Gesicht auf ihn wirkt, ist doch ihr Körper allzu derb und stämmig, als dass man sie als perfekte Frau bezeichnen könnte. Es sollte jedoch festgehalten werden, dass ihre Kleidung identisch ist mit der, die Anna zu einem früheren Zeitpunkt des Tages getragen hat.
Wo ist meine Anna?, fragt Mr. Blank. Ich dachte, sie ist es, die sich hier um mich
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