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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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kümmern soll.
    Das tut sie auch, sagt die Frau. Aber sie hatte in letzter Minute noch einige Dinge zu erledigen, und da hat sie mich gebeten, für sie einzuspringen.
    Das ist furchtbar, sagt Mr.   Blank mit trauriger Stimme. Nichts gegen Sie, versteht sich, wer Sie auch sein mögen, aber ich warte seit Stunden darauf, sie wiederzusehen. Diese Frau bedeutet mir alles. Ich kann ohne sie nicht leben.
    Das weiß ich, sagt die Frau. Wir alle wissen das. Aber – und hierbei lächelt sie ihn freundlich an – ich kann es nicht ändern. Ich fürchte, jetzt haben Sie mich am Hals.
    Ein Jammer, seufzt Mr.   Blank. Sie meinen es bestimmt gut mit mir, aber ich kann meine Enttäuschung nicht verhehlen.
    Sie brauchen nichts zu verhehlen. Sie haben das Recht zu fühlen, was Sie fühlen, Mr.   Blank. Das ist nicht Ihre Schuld.
    Wenn wir uns schon gegenseitig am Hals haben, wie Sie das nennen, sollten Sie mir vielleicht sagen, wer Sie sind.
    Sophie.
    Ah. Aha. Sophie   … Ein sehr schöner Name. Und er beginnt mit dem Buchstaben S, richtig?
    So will es scheinen.
    Erinnern Sie sich, Sophie. Sind Sie das kleine Mädchen, das ich an dem Teich geküsst habe, als ich zehn Jahre alt war? Wir waren Schlittschuh laufen, und dann haben wir auf einem Baumstumpf gesessen, und ich habe Sie geküsst. Leider haben Sie den Kuss nicht erwidert. Sie haben nur gelacht.
    Das kann nicht ich gewesen sein. Als Sie zehn waren, war ich noch gar nicht auf der Welt.
    So alt bin ich?
    Nicht direkt alt. Aber viel älter als ich.
    Na schön. Wenn Sie nicht diese Sophie sind, welche Sophie sind Sie dann?
    Statt ihm zu antworten, geht die Sophie, die nicht das Mädchen war, das Mr.   Blank als Zehnjähriger geküsst hat, zum Schreibtisch, zieht eines der Fotos aus dem Stapel und hält es hoch. Das bin ich, sagt sie. Ich vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren.
    Etwas näher, sagt Mr.   Blank. Sie sind zu weit weg.
    Einige Sekunden später hält Mr.   Blank das Foto in den Händen. Es stellt sich als das Bild heraus, das er einige Stunden zuvor so aufmerksam betrachtet hat – das von der jungen Frau, die in einer halbgeöffneten Tür steht, die zu einem New Yorker Apartment zu gehören scheint.
    Damals waren Sie viel schlanker, sagt er.
    Die reiferen Jahre, Mr.   Blank. Die machen komische Sachen mit der Figur eines Mädchens.
    Erklären Sie mir, sagt Mr.   Blank und tippt mit dem Zeigefinger auf das Foto. Was geht hier vor? Wer ist die Person dort im Flur, und warum machen Sie so ein Gesicht? Irgendwie ängstlich, zugleich aber auch erfreut. Sonst würden Sie wohl nicht lächeln.
    Sophie kauert sich neben Mr.   Blank, der immer noch auf dem Stuhl sitzt, und sieht sich das Foto schweigend an.
    Das ist mein zweiter Mann, sagt sie schließlich, und ich glaube, das war das zweite Mal, dass er mich besuchen kam. Beim ersten Mal hatte ich mein Baby im Arm, als ich ihm die Tür aufmachte, daran erinnere ich mich genau – also muss das hier das zweite Mal gewesen sein.
    Warum so ängstlich?
    Weil ich mir nicht sicher war, was er für mich empfand.
    Und das Lächeln?
    Ich lächle, weil ich mich gefreut habe, ihn zu sehen.
    Ihr zweiter Mann, sagen Sie. Und was war mit dem ersten? Wer war das?
    Sein Name war Fanshawe.
    Fanshawe   … Fanshawe   …, flüstert Mr.   Blank vor sich hin. Ich glaube, jetzt kommen wir endlich weiter.
    Sophie kauert noch neben ihm, das Schwarzweißfotoaus ihren jüngeren Tagen liegt noch auf seinem Schoß, als Mr.   Blank sich unvermittelt in Bewegung setzt und mitsamt seinem Stuhl, so schnell er kann, auf den Schreibtisch zuwatschelt. Dort angekommen, wirft er das Bild von Sophie auf Annas Porträt, greift nach dem kleinen Notizblock und schlägt ihn auf der ersten Seite auf. Er fährt mit dem Finger die Namenliste hinunter, hält an, als er auf
Fanshawe
stößt, und dreht sich auf dem Stuhl zu Sophie herum, die inzwischen aufgestanden ist und jetzt langsam auf ihn zukommt.
    Aha, sagt Mr.   Blank und tippt mit dem Finger auf den Block. Hab ich’s doch gewusst. Fanshawe hat mit alldem hier zu tun, richtig?
    Ich weiß nicht, wie Sie das meinen, sagt Sophie; sie bleibt am Fußende des Bettes stehen und lässt sich ungefähr an derselben Stelle nieder, auf der vorhin James P.   Flood gesessen hat. Natürlich hat er damit zu tun. Wir alle haben damit zu tun, Mr.   Blank. Ich dachte, das wissen Sie.
    Von ihrer Antwort verwirrt, gibt der alte Mann sich dennoch Mühe, an seinem Gedankengang festzuhalten. Haben Sie schon mal von einem

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