Reizende Gäste: Roman (German Edition)
Wieder fühlte er sich überrumpelt. Erinnerungen an die Feste stiegen in ihm hoch, die sie immer zu Weihnachten veranstaltet hatten. Dekorationen und Glühwein; jeder war schön angezogen und vergnügte sich. »Ja, schon«, sagte er. »Ich finde unsere Familie eigentlich schon ganz nett. Du weißt schon. Wir haben haufenweise Freunde und so was.«
Zara deutete mit nichts an, daß sie ihn verstanden hatte. Die Bäume warfen einen gesprenkelten Schatten auf ihr Gesicht, und ihre Miene war schwer zu erkennen. Nach einer weiteren Pause sprach sie wieder.
»Und Fleur, wie findet ihr sie?«
»Sie ist toll!« sagte Antony mit aufrichtiger Begeisterung. »Sie ist so lustig. Ich hätte nie gedacht …«
»Ich weiß schon. Du hättest nie gedacht, daß sich dein Dad je wieder mit einer Frau einlassen würde.« Zara nahm einen weiteren Zug. Antony musterte sie neugierig.
»Stimmt. Man kann sich das einfach nicht vorstellen, oder? Daß deine Eltern mit jemandem gehen.« Zara schwieg.
Plötzlich hörten sie etwas. Schritte näherten sich; undeutlich waren Stimmen zu vernehmen. Geschwind drückte Zara den Joint aus und vergrub ihn in der Erde. Antony stützte sich lässig auf einen Ellenbogen. Einen Augenblick darauf erschienen Xanthe Forrester und Mex Taylor auf der Lichtung. Xanthe trug eine Wodkaflasche bei sich, ihre Wangen waren gerötet, und ihr aufgeknöpftes Shirt enthüllte einen rosa Gingham-BH. Beim Anblick von Antony und Zara blieb sie jäh stehen.
»Antony!« sagte sie verblüfft. »Ich wußte ja gar nicht …«
»Hi Xanthe. Das ist Zara.« Er sah zu Zara. »Und das sind Xanthe und Mex.«
»Hallöchen«, grüßte Mex und zwinkerte Antony zu.
»Hi«, sagte Zara.
»Wir machen uns jetzt besser auf den Weg«, meinte Antony. Er stand auf und hielt Zara eine Hand hin, doch sie ignorierte sie und stand in einer geschmeidigen Bewegung aus ihrem Schneidersitz auf. Xanthe kicherte, und seine Hand schoß unwillkürlich hoch, um das Muttermal zu verdecken.
»Antony ist immer solch ein Gentleman, findest du nicht?« witzelte Xanthe und grinste Zara verschwörerisch an.
»So?« erwiderte Zara höflich und entschärfte so Xanthes Spott. Xanthe errötete leicht und kicherte dann erneut.
»Ich bin ja so blau!« Sie hielt Zara die Flasche hin. »Hier, nimm einen Schluck.«
»Ich trinke nicht«, entgegnete Zara. »Aber trotzdem danke.« Sie steckte die Hände in die Taschen und zog wieder die Schultern hoch.
»Laß uns gehen«, sagte Antony. »Es könnte sein, daß deine Mutter zurück ist.«
»Deine Mutter?« fragte Xanthe wie aus der Pistole geschossen. »Wer ist denn deine Mutter?« Zara wandte den Blick ab.
»Fleur«, antwortete sie. Plötzlich klang sie müde. »Fleur ist meine Mutter.«
Auf dem Rückweg nach »The Maples« verschwand die Sonne hinter einer Wolke und warf einen Schatten auf die Straße. Zara starrte eisern nach vorn und erstickte mit einer Miene, die von Schritt zu Schritt strenger wurde, den Wunsch, in Tränen auszubrechen. Anfangs war es immer so; in ein, zwei Tagen wäre alles okay. Heimweh, so nannten die von der Schule es. Aber sie konnte nicht wirklich Heimweh empfinden, da sie kein Zuhause hatte, nach dem sie sich sehnen konnte. Da war die Schule, mit ihrem Bohnerwachsgeruch, den Hockeyfeldern und den plumpen, dummen Mädchen. Und da war Johnnys und Felix’ Wohnung, wo für sie eigentlich kein Platz war. Und da war irgendein Ort, an dem Fleur sich gerade aufhielt. So war es gewesen, seitdem sie denken konnte.
Seit ihrem fünften Lebensjahr lebte sie im Internat. Davor mußte sie eine Art Zuhause gehabt haben, vermutete sie, aber daran konnte sie sich nicht erinnern, und Fleur behauptete, sie selbst könne es auch nicht. Folglich war die Court School in Bayswater eigentlich ihr erstes Heim gewesen, ein gemütliches Haus voller Diplomatenkinder, die mit teuren Teddys ins Bett gesteckt worden waren. Ihr hatte es dort riesig gefallen, und sie hatte alle Lehrer leidenschaftlich geliebt, vor allem Mrs. Burton, die Direktorin.
Und sie hatte Nat geliebt, ihren besten Freund, den sie an ihrem ersten Tag dort kennengelernt hatte. Nats Eltern arbeiteten in Moskau, und er hatte ihr zur heißen Schokolade vor dem Zubettgehen anvertraut, daß sie ihn überhaupt nicht liebten, nicht das kleinste bißchen.
»Meine Mutter liebt mich auch nicht«, hatte sie prompt erwidert.
»Ich glaube, meine Mutter liebt mich schon«, hatte Nat gesagt, die Augen riesig über dem weißen Porzellanbecher, »aber mein
Weitere Kostenlose Bücher