Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Ihre Stimme war vor Eindringlichkeit beinahe ein Flüstern.
„Geh nicht weg, Samuel. Außer Vater habe ich niemanden mehr. Du bist für mich wie ein Bruder.“
Sie schmiegte sich eng an mich, ganz so, wie ich es vorhin bei dem Liebespaar am Hafen beobachtet hatte. Ich legte meinen Arm um sie und hoffte, dass keiner der Fußgänger uns beobachten und Falsches über uns denken würde. Doch gleichzeitig gefiel es mir, ihren Körper so dicht an meinem zu spüren. Ihre Haare, die sich unter der Haube hervorkräuselten, kitzelten an meinen Lippen. Mein Herz klopfte laut und schnell. Cornelia hatte soeben etwas ganz Wunderbares gesagt. Sie wollte, dass ich bliebe.
„Siehst du, jetzt ist mir nicht mehr kalt.“ Cornelia hakte sich fröhlich und wie selbstverständlich wieder bei mir unter.
„Es stimmt übrigens nicht, was ich vorhin erzählt habe. Es war nur so ein Gedanke, als das Schiff mit vollen Segeln in die untergehende Sonne hinein fuhr. In Wirklichkeit würde ich niemals freiwillig von hier fortgehen.“
Mai 1669
Der Meister hatte wieder ganz zu seinem kraftvollen, unermüdlichen Selbst zurückgefunden. Mit schlafwandlerischer Sicherheit setzte er jeden Pinselstrich an die richtige Stelle. Er wies mich an, welche Farben ich anzurühren hatte und malte mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ich Mühe hatte, mit dem Reiben und Mischen nachzukommen. Nun war es der Meister, der meinetwegen ungeduldig wurde und mich zu größerer Eile antrieb.
Den noch leeren Hintergrund führte er in einem mittleren Grünton aus. Dazu nahm er einen breiten Pinsel und verwandte viel Zeit und Sorgfalt auf eine ebenmäßige, glatte Fläche. Danach begab er sich an die Gestalt des Assistenten am äußeren, linken Bildrand. Er verzichtete auf eine scharfe Umrandung, ließ die Figur beinahe mit dem Hintergrund verschmelzen. So konnte man denken, der Medicus befinde sich gerade mitten in einer Bewegung.
Wenn der Meister Barthaare oder Haarlocken malte, trug er die Farben nicht nur mit dem Pinsel auf. Er rieb sie mit den Fingern ein, griff zum Spachtel oder zog zarte Linien mit dem Pinselstiel. Die Kleidung formte er aus dickflüssiger Farbe und mit sehr kurzen, ungestümen Pinselstrichen. Aus der Nähe sahen sie aus wie Flecke, die achtlos auf die Leinwand getropft waren. Erst aus der Entfernung war die eigentliche Absicht des Meisters zu erkennen. Die Oberfläche der Farbe täuschte die Struktur der Stoffe glaubhaft vor. Man war versucht, die Hand auszustrecken, um die Beschaffenheit der Kleidungsstücke zu fühlen.
Mir fiel auf, dass der Meister glatte und raue Flächen dicht nebeneinander setzte. Weil ich aber seine Arbeit nicht durch meine Fragen unterbrechen wollte, versuchte ich, selbst eine Antwort dafür zu finden.
„Was ist los, Samuel? Ich kann mich nicht richtig konzentrieren, wenn ich spüre, dass du hinter meinem Rücken unruhig hin und her läufst.“
Also fragte ich den Meister geradeheraus. Er führte mich zum Fenster, durch das hell die Sonne schien, und hielt einen Bogen Papier gegen das Licht.
„Sieh dir dieses blaue Blatt Papier genau an, Samuel. Was fällt dir auf?“
Ich nahm das Papier in meine Hand, hielt es vor das Fenster und drehte es langsam hin und her. Plötzlich bemerkte ich etwas Sonderbares.
„Zuerst dachte ich, das Papier müsse glatt sein, weil es sich auch so anfühlt. Und doch kann man aus nächster Nähe erkennen, dass die Oberfläche unregelmäßig und rau ist.“
„Und jetzt richte deinen Blick in den Himmel, der ebenso blau ist. Gleicht er dem Papier, oder ist er anders beschaffen?“
Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte.
„Der Himmel ist nicht so wie das Papier. Er ist tatsächlich glatt.“
Der Meister nickte und nahm einen breiten Malspachtel, mit dem er einige dicke Kleckse Bleiweiß auf die Schulter des Medicus setzte. Mit einem dünnen Pinselstiel kratzte er sodann die Stickerei des Kragenstoffes aus der Farbschicht. Ich war verblüfft, wie natürlich und glaubhaft die Spitze aus einigen Schritten Abstand erschien.
„Wenn man Dinge aus der Nähe betrachtet“, erklärte der Meister, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, „so sucht das Auge einen Halt. Es will sich an einer Unebenheit festhalten. Schaut man dagegen in die Ferne, dann erscheinen die Formen glatt und gleichmäßig. Aus diesem Grund müssen die Dinge im Vordergrund mit einem unregelmäßigen Pinselstrich dargestellt werden, die im Hintergrund mit einem glatten Farbauftrag.“
Bisweilen, wenn der
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