Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Wirklichkeit. Mit der einen Hand, in der er ein Skalpell hielt, deutete er auf die freigelegten Fußknochen des Toten, der erst in Umrissen erkennbar war. In der anderen Hand hielt er sein Anatomiebuch, dessen Titel in goldenen Buchstaben auf dem roten Ledereinband prangte: „De humani pedis fabrica“ - „Über die Beschaffenheit des menschlichen Fußes“.
Auf der linken Seite, am Kopfende des Seziertisches, hatte sich die Gruppe der fünf Assistenten versammelt. Sie waren im Halb- oder Dreiviertelprofil zu sehen. Alle konzentrierten sich auf das Geschehen, und jeder zeigte eine für ihn charakteristische Mimik und Gestik.
Der Medicus am äußersten linken Bildrand beugte sich mit weit vor. Er hatte den Mund vor Staunen leicht geöffnet und blickte auf den Tisch in der Mitte des Bildes, dorthin, wo der Leichnam lag. Sein Nachbar zeigte mit dem Finger in dieselbe Richtung. Der dritte schrieb das soeben Gehörte auf ein Blatt Papier. Der vierte Assistent hielt seine Hand hinter das Ohr, um nicht ein einziges Wort des Vortrags zu verpassen.
Die Doctores waren in Form einer Pyramide gruppiert, deren Spitze die Figur des Medicus Thomas Block bildete, wie er mit aufmerksamem Blick das Geschehen rundum verfolgte. Mit dieser hervorgehobenen Position wollte der Meister dessen verstorbenen Vater ehren, den er bereits in seinem früheren Anatomiestück dargestellt hatte.
Bei den Doctores betonte der Meister diejenigen Züge, die ihm wesentlich erschienen. Dennoch hatte er weitaus mehr als nur äußerliche Porträts geschaffen. Man konnte glauben, der Maler sei unter die Oberfläche der Personen vorgedrungen und hätte ihre Gefühle und Gedanken erfasst.
Einmal, als ich morgens noch schlaftrunken aus meiner Kammer ins Atelier trat, fielen ein paar Sonnenstrahlen durch das Fenster direkt auf die Staffelei. Ich rieb mir die Augen. Mir war, als würde sich der Vorhang zu einem Theaterstück heben. Die Figuren kamen mir vor wie tatsächliche Besucher im Atelier, die atmeten und sich bewegten. Ich wäre nicht im Geringsten verwundert gewesen, hätten sie in diesem Moment zu sprechen begonnen.
Seit Tagen schon buk Rebekka Pasteten und Kuchen, setzte Kräuterlikör auf schrubbte in der Diele und in der Stube jede Ecke. Am Morgen des fünfzehnten Juli bereitete sie ein besonders festliches Frühstück vor aus Brot, Butter, Milch, Käse, Stockfisch und gebratene Eiern. Sie schnitt einen Strauß lachsfarbener Rosen aus dem Garten und stellte ihn in einem irdenen Krug mitten auf den Esstisch.
Cornelia umarmte den Meister, als er in seinem besten Hausmantel hereinkam, und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Guten Morgen, Vater, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Sieh doch, was ich für dich gemacht habe. Aber zuerst musst du uns zeigen, ob du zaubern kannst.“
Sie hielt dem Meister einen Zinnbecher entgegen. Betont umständlich griff er hinein und zog schmunzelnd ein weißes Taschentuch hervor. Am Saum war mit einem Garn von tief kobaltblauer Farbe sein Namenszug eingestickt.
„Was für eine schöne Idee, Cornelia! Bestimmt wirst du einmal eine gute Hausfrau. Aber ich werde mich nur am Sonntag oder an Feiertagen damit schnäuzen.“
Cornelia zwinkerte mir zu und legte ihren Zeigefinger an die Lippen. Ich schüttelte beruhigend den Kopf. Natürlich brauchte niemand zu wissen, dass ich ihr geholfen und den Schriftzug auf dem Stoff vorgezeichnet hatte.
Lange hatte ich überlegt, womit ich dem Meister eine Freude machen könnte. Schließlich hatte ich eine Kappe für ihn genäht und mit einer karminroten Bordüre verziert. Rebekka hatte mir ein altes Stück Filz geschenkt. Der Stoff war in genau demselben dunkelbraunen Farbton wie auch sein Lieblingsrock.
„Ihr solltet euch meinetwegen nicht so viele Gedanken machen. Bloß, weil ein alter Mann Geburtstag hat“, wehrte der Meister ab und schien aber trotzdem gerührt.
Er setzte sich zu uns an den Tisch und wollte nach einem Stückchen Käse greifen, als er neben seinem Teller eine kleine irdene Schale entdeckte, die mit Pergament verschlossen war. Er öffnete die Schale und holte ein paar Tabakblätter heraus, an denen er genießerisch schnupperte. Als er fragend zu Rebekka schaute, senkte die alte Magd rasch den Blick und schenkte eilfertig Milch in unsere Becher.
„Was hast du vor, Rebekka, willst du mich vergiften? Und dann auch noch mit diesem Teufelskraut, das dem Körper die Säfte entzieht, wie du immer sagst?“
Rebekka wischte sich verlegen die
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