Remember
auch den ganzen Tag rauf und runter hören.«
Paul lachte und fuhr los.
Es machte ihm Spaß, Gillian aus den Augenwinkeln zu beobachten. Der Fahrtwind spielte mit ihren roten Haaren und ihr sommersprossiges Gesicht strahlte mit ihrer kleinen gelben Freundin um die Wette. Wenn sie langsam fuhren oder an einer Ampel hielten, sah er, wie sie aufmerksam lauschte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem kurzen Lächeln, sobald sie etwas hörte, das ihr gefiel. Irgendwann einmal würde er sie fragen, ob sie ihn mitnehmen würde in ihre Welt, von der er jetzt schon wusste, dass sie alles andere als dunkel war.
Gillian fingerte am Touchpad des Wagens herum und gleich darauf ertönte eine Stimme. »... mit den roten Haaren eroberte die Herzen der Menschen im Sturm. Überall auf der Welt hat die Geschichte von Annabel und Michael eine regelrechte Hysterie ausgelöst. In einer Hörerumfrage wollten wir herausfinden, was nach Meinung der Leute auf der Straße das bedeutendere Ereignis gewesen sei: Die Mondlandung von 1969 oder REMEMBER. Und hier ist das erstaunliche Ergebnis: Siebzig Prozent der Befragten stimmten für Annabel und Michael. Nur zwanzig Prozent favorisierten die Mondlandung von Apollo 11.
Tja, liebe Hörer, da fragt man sich schon jetzt, ob die bevorstehende Marsmission da mithalten kann. Vielleicht…«
Gillian wischte über den Screen und die Stimme erstarb. Sie legte den Kopf zurück. »Paul?«
»Hm?«
»Können wir so tun, als ob es diesen ganzen Rummel um uns gar nicht gibt? Ich möchte im Moment einfach nur Gillian sein.«
Paul lächelte. »Nichts lieber als das.«
Sie gingen über sandige Pfade und asphaltierte Wege. Gillian lauschte dem Klang ihrer Schritte, der sich zusammen mit den Geräuschen der Umgebung ständig veränderte. Alles, was sie hörte und fühlte, erzählte ihr Geschichten über die Dinge, die sie nicht sah, und die Geschichten wurden zu Bildern. Der Wechsel von Licht und Schatten, den sie auf ihrer Haut spürte, war wie die Grundierung der Leinwand, auf der sie ihre Kopfbilder malte. Mal war sie leuchtend hell, mal voll dunkler Schatten. Und über allem, wie die schützende Firnis auf einem Gemälde, lag das beruhigende Rauschen der Bäume.
Dieser Ort fühlt sich schön an, dachte Gillian. Aber das behielt sie in diesem Moment für sich.
Pauls Schritte wurden langsamer und seine Atmung schneller. Er blieb stehen und ließ Gillians Hand los.
Wir sind da , dachte Gillian und ein wenig von Pauls Angst sprang auf sie über. Das Blätterrauschen war jetzt ganz nah und hüllte sie ein wie ein stetes Flüstern. Sie streckte ihren Arm aus und ertastete die raue Rinde eines großen Ahornbaumes, in dessen Schatten sie standen.
Paul kniete sich auf den Boden und strich behutsam ein paar Äste beiseite, die auf das Grab gefallen waren. Er legte einen Strauß Gänseblümchen auf den Stein.
»Hallo, Becca!«, sagte Paul und seine Stimme zitterte. »Ich wollte früher kommen, ich hatte es so oft versucht, aber ich… ich konnte es einfach nicht. Es tut mir leid.« Gillian spürte, wie er sie ansah. »Ich habe jemanden mitgebracht. Sie heißt Gillian.«
»Hallo, Rebecca!«, sagte Gillian und kniete sich dicht an Pauls Seite. Paul fasste nach ihrer Hand.
»Rebecca war im ersten Semester an der Uni«, sagte Paul mit leiser Stimme. »Sie wollte über Weihnachten nach Hause zu unseren Eltern fahren. Sie wohnen hier in London in einem Stadthaus an einem Kanal. Wir sind dort aufgewachsen. Zum Haus gehört auch ein kleiner Steg und ein Motorboot, mit dem wir oft rausgefahren sind. Zuerst nur mit unseren Eltern. Später, als wir älter waren, auch immer öfter zu zweit. Das ist wohl der Grund, warum mich das Haus am See…«
Paul machte eine Pause.
»Ich hatte Rebecca versprochen, sie von der Uni abzuholen. Wir wollten eine kleine Tour über Land machen, damit wir ein wenig Zeit für uns hatten. Aber die Kirche, die wir restaurierten, sollte bis Weihnachten fertig sein, und weil wir mit unserer Arbeit etwas hinterherhinkten, mussten wir Überstunden machen. Ich bat sie, stattdessen mit dem Zug zu fahren. Aber sie sagte, dass ein Freund von der Uni sie mitnehmen würde.« Er stockte. »Im Polizeibericht stand, dass die Straße an der Stelle vereist gewesen, dass der Wagen ins Schleudern gekommen und der Fahrer weder betrunken noch zu schnell gewesen sei. Niemand konnte etwas dafür. Niemand…«
Als Paul anfing zu weinen, hielt Gillian ihn fest. »Soll ich dir verraten, was Rebecca mir ins Ohr
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