Remember
bei ihm zu sitzen und ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war, was immer auch passierte. So, wie er es bei ihr in der Anstalt getan hatte.
Rebeccas Schicksal und Michaels Trauer darüber machten Annabel schmerzlich bewusst, dass Sicherheit eine Lüge war. Es war nicht so, dass sie und die Jungs in dieser Lage waren, weil sie plötzlich aufgehört hatte zu existieren – nein, es hatte sie nie gegeben. Niemand hielt zu irgendeiner Zeit seine schützende Hand über sie. Nicht als sie Kinder waren und jetzt auch nicht.
Irgendwo hinter ihnen sang ein Vogel, das Wasser plätscherte leise gegen die Pfähle des Stegs und ein auffrischender Wind vertrieb endlich die Hitze des Tages. Die Sonne war in der Zwischenzeit untergegangen und die Konturen der Bäume am Ufer des Sees verwischten, bis ihre dunkler werdenden Silhouetten aussahen wie Scherenschnitte aus schwarzem Papier.
»Danke, dass du mir von ihr erzählt hast«, flüsterte Annabel nach einer Weile.
Michael nickte. »Ich bin froh darüber.« Er richtete sich etwas auf, seine Schultern strafften sich. »Ich werde den beiden anderen auch sagen, was hier passiert ist. Ich möchte nicht, dass sie glauben, mein Verhalten hätte etwas mit uns zu tun.«
Michael nahm behutsam Annabels Hand. »Kommst du mit?«, fragte er zögernd. »Das würde mir helfen.«
Sie lächelte ihn an und wischte sich die Tränen ab. »Ich komme mit dir«, sagte sie.
27
Das vertraute und doch unheimliche Geräusch ließ Michael in die Höhe fahren.
Er hatte so tief geschlafen, dass er einen Moment brauchte, bis ihm einfiel, wo er war. Im Haus am See. Auf dem alten gestreiften Sofa im Wohnzimmer seiner Eltern.
Und noch immer tönte aus der Küche das schrille Geräusch. Ein Geräusch, das es gar nicht hätte geben dürfen und das ihm durch Mark und Bein fuhr.
Er sprang vom Sofa auf und war mit einem Satz in der Diele. Fassungslos blieb er stehen und starrte auf den runden Küchentisch. Das Mondlicht, das durch die Fenster schien, tauchte den Raum in ein diffuses Licht.
Von oben kam Annabel die Treppe heruntergestürzt.
»Was ist das?«
Michael hörte die Panik in ihrer Stimme. Direkt hinter ihr tauchten jetzt auch Eric und George auf, schlaftrunken taumelten sie die Stufen hinunter.
»Scheiße, Michael! Ich dachte, hier gäb’s kein Telefon.«
»Das dachte ich auch«, flüsterte Michael für die anderen unhörbar. »Das dachte ich auch.«
Und doch stand es da, mitten auf dem Küchentisch, an dem sie vor ein paar Stunden noch zu Abend gegessen hatten, und klingelte unablässig. Es war mattschwarz mit einem klobigen Hörer, die Wählscheibe war in einem schmutzigen Beigeton unterlegt. Es war nur ein stinknormales Telefon, doch es jagte Michael eine Höllenangst ein.
»Will noch jemand außer mir weglaufen?«, fragte Eric leise.
Michael atmete tief durch, ging auf den Tisch zu und streckte seinen Arm nach dem Hörer aus. Doch bevor er abhob, sah er sich noch einmal um. Annabel nickte zaghaft, Eric schüttelte den Kopf und Georges Miene war wie immer undurchdringlich.
Michael überlegte nicht länger, nahm den Hörer ab und führte ihn langsam zum Ohr. Die anderen kamen vorsichtig näher.
Zuerst hörte er nichts weiter als ein Knistern und Rauschen. Dann bahnte sich ein Flüstern den Weg durch das Dickicht elektronischer Störgeräusche. Michael hatte Mühe, es zu verstehen.
»Was ihr sucht… der See… folgt Zeichen… noch fünf… Tage… die Zeichen«
Plötzlich übertönte ein ohrenbetäubendes Pfeifen das Flüstern. Michael riss den Hörer vom Ohr, um nicht taub zu werden. Als das Pfeifen erstarb, war die Leitung tot. Kein Flüstern, kein Rauschen. Michael legte mit zittrigen Händen auf und setzte sich auf einen Stuhl.
»Und?«, fragte Annabel.
Mit monotoner Stimme wiederholte Michael die Worte des Anrufers. »Der See. Zeichen. Fünf Tage.«
George lehnte an der Spüle und betrachtete das Telefon. »Das war alles? Hast du die Stimme erkannt?«
»Nein. Ich kann nicht mal sagen, ob es eine Frau oder ein Mann war.«
Michael bemerkte, dass Annabel das Telefon untersuchte. Sie berührte die Schnur und folgte mit den Augen ihrem Verlauf. Sie fiel vom Tisch senkrecht herab, lief etwa eineinhalb Meter über den Boden und verschwand dann in einem Spalt zwischen Kamin und Backofen. »Eric, mach doch mal das Licht an«, sagte sie.
Gleich darauf erhellte ein kleiner vierarmiger Leuchter über dem Tisch den Raum.
Annabel rückte den schweren Ofen ein kleines Stück von der Wand
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