Remember
schuldig, das Geheimnis des Hauses so schnell wie möglich zu lüften. Auch wenn sie jetzt alles darum gegeben hätte, für eine kurze Zeit ihre Situation zu vergessen.
Michael war schon vorausgegangen.
»Lasst uns mit dem Wohnzimmer anfangen, okay?«
26
Es war Abend geworden und Annabel saß am Ende des Bootsstegs und schaute auf den See hinaus. Schimmernde Lichtreflexe tanzten auf den Wellen. Nichts deutete darauf hin, wie tief er in seiner Mitte war und was sich unter seiner Oberfläche verbarg. Knietief oder bodenlos. Harmlose Fische oder gefährliche Ungeheuer.
Annabel fühlte sich mut- und kraftlos. Stunden um Stunden hatten sie das Haus und seine nähere Umgebung durchsucht und nichts gefunden. Keine versteckten Türen, keine dunklen Geheimnisse. Es war ein Wochenendhaus wie jedes andere. Michaels Eltern hatten es von einem Mr Darrow gemietet, dem der See und noch ein paar weitere Anwesen in der Umgebung von Willowsend gehörten. Viel mehr gab es darüber nicht zu sagen.
Das Haus und seine Umgebung waren wunderschön, aber dieser Ort hielt keine Antworten für sie bereit, davon war Annabel inzwischen überzeugt. Und was noch schlimmer war: Für einen von ihnen schien das Haus nichts als Kummer und Schmerz zu bedeuten.
Je länger sie gesucht und je mehr Fragen sie Michael über das Haus gestellt hatten, desto stiller war er geworden. Bis er sich am Ende vollkommen in sich zurückgezogen hatte. Nur einmal war er noch aus sich herausgegangen. Als sie den letzten Raum im ersten Stock durchsuchen wollten, den Annabel für ein Gästezimmer hielt, war er ohne ersichtlichen Grund wütend geworden und hatte sie lauthals und ohne eine Erklärung vor die Tür gesetzt. So zornig und aggressiv hatte Annabel ihn bisher nur einmal erlebt: Als Eric ihn in der Anstalt davon abgehalten hatte, zu Dr. Parker zu laufen, um ihn zur Rede zu stellen.
Annabel hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber inzwischen begriff sie, dass sie Michaels besonnene, liebenswerte Art und seine starke Zuversicht ebenso brauchte wie Erics Humor. Ohne die beiden hätte sie längst die Hoffnung verloren. Doch Michaels Verhalten heute Nachmittag hatte ihr empfindliches inneres Gleichgewicht völlig ins Wanken gebracht.
Hinzu kam, dass sie am Anfang ihrer Suche noch einmal alles besprochen und mit endlos quälenden Fragen ihre Situation Stück für Stück auseinandergenommen hatten. Am Ende hatten sie nichts weiter als einen Haufen nutzloser Verschwörungstheorien. George hatte am Ende vorgeschlagen, sich zu verstecken, anstatt weiter wie ein Haufen dummer Schafe den Hinweisen hinterherzulaufen. Vielleicht hatte er recht. Bis vor ein paar Stunden hatte Annabel noch geglaubt, die Hinweise aus der Anstalt seien eine echte Chance, ihre Probleme zu lösen, was immer »lösen« auch bedeuten mochte. Jetzt glaubte sie an überhaupt nichts mehr.
Eine leichte Brise kräuselte die Oberfläche des Sees. Die untergehende Sonne zauberte zum Abschied flüchtige Goldadern aufs Wasser. Die Bäume und Sträucher wiegten sich sanft im Wind, neigten sich einander zu, als wünschten sie sich gegenseitig eine gute Nacht.
Wehmütig und ein wenig ängstlich sah Annabel zu, wie das Licht verschwand. Eine halbe Stunde noch, und es würde dunkel sein.
Leise Schritte ließen die alten Bohlen des Stegs knarren. Annabel wandte müde den Kopf.
Michael.
Während er sich wortlos neben ihr niederließ, warf Annabel ihm einen Blick von der Seite zu. Seine schönen, leicht kantigen Züge wirkten genauso ernst und angespannt, wie sie es den Nachmittag über gewesen waren.
»Tut mir leid, dass ich vorhin so ausgerastet bin.«
Michaels sanfte Stimme gab Annabel Mut. Dennoch zögerte sie, bevor sie tief Luft holte und endlich die Fragen stellte, die sie so bedrückten.
»Michael, was ist los mit dir? Was ist mit diesem Haus? Es hat nichts mit uns zu tun, oder?«
Michaels langes Schweigen war für Annabel fast unerträglich. Er rührte sich nicht, starrte nur auf das Wasser. Und erst, als sie die Hoffnung auf eine Antwort schon aufgegeben hatte, nickte er leicht, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen«, sagte er. Annabel sah, wie seine Hände leicht zitterten, als er sie in den Schoß legte. Noch immer war sein Blick auf das Wasser gerichtet.
»Ich habe diesen Ort einmal geliebt. Früher verbrachten wir fast jedes Wochenende hier, sogar im Winter, wenn das Wetter es zuließ.«
»Früher?«, fragte Annabel leise.
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