Remember
wenig enttäuscht. In ihrer Fantasie war das Haus am See längst zu einer Art Spukhaus mutiert, zu einem verfluchten Ort voller Gefahren und dunkler Geheimnisse. Doch jetzt stand sie hier in dieser Bilderbuchkulisse und sein Anblick hatte überhaupt nichts Geheimnisvolles oder gar Unheimliches an sich. Es sah genauso aus wie auf dem Foto und dem Buntglasfenster. Es war einfach nur ein Haus. Und ausgerechnet hier sollten sie ihre Antworten finden?
Auf der Veranda stellte Michael sich vor der Tür auf die Zehenspitzen und fischte einen Schlüssel oben von einem Balken.
»Spitzenversteck«, spottete Eric und beendete damit das lange Schweigen, das zwischen ihnen geherrscht hatte. »Da hätte ich als Einbrecher wirklich als Letztes gesucht.«
»Wer hier einbrechen will, macht sich nicht die Mühe und sucht nach einem Schlüssel«, erwiderte Michael und schloss die Tür auf.
Irgendwie mochte Annabel das Haus. Es strahlte eine besondere Wärme und Behaglichkeit aus. Im Inneren trennte eine offene Diele ein großes gemütliches Wohnzimmer auf der linken und eine geräumige Küche auf der rechten Seite. Und es gab weder Türen noch durchgehende Zwischenwände. Eine zentrale Treppe führte von der Diele hinauf in den ersten Stock.
Annabel suchte Michaels Blick. Sie wollte ihm sagen, wie schön sie es hier fand. Doch er schien sie nicht wahrzunehmen, stand nur da und starrte auf die abgedeckten Möbel im Wohnzimmer.
Was war nur los mit ihm? Selbst ein Blinder konnte erkennen, wie sehr er mit sich kämpfte, hier zu sein. Aber warum? Und wie sollte sie ihm helfen, wenn er die ganze Zeit darüber schwieg? Hilflos warf Annabel Eric einen Blick zu, und als hätte er ihre Gedanken gelesen, entspannte er die Situation auf seine Weise.
»Tolle Bude, Michael. Aber mal ehrlich. Hier drin riecht’s wie in ’nem alten Männersuspensorium. Wir sollten mal lüften.«
»Gute Idee«, sagte Michael und lachte.
Annabel half den beiden, die Fenster im Erdgeschoss zu öffnen, und bemerkte, dass sogar George sich ein paar Gedanken über Michaels Gemütszustand zu machen schien.
Sie hörte, wie er ihn freundlich um Erlaubnis bat, bevor er die Tücher von den Möbeln nahm.
»Wenn ihr wollt, zeig ich euch noch die anderen Zimmer«, sagte Michael und ging bereits die Treppe hinauf. »Passt auf, das Geländer wackelt ein bisschen. Ist aber stabil. Wir sind wohl ein paarmal zu oft hier runtergerutscht.«
»Sag mal, gibt es hier eigentlich ein Telefon?«, fragte Eric.
»Nein. Das Haus sollte ein Rückzugsort sein. Ohne Störungen.«
Im ersten Stock befanden sich ein Elternschlafzimmer, Michaels Zimmer und ein weiterer Raum, der nur mit einem Schrank, einem Bett und einem Nachttisch möbliert war und auffallend karg aussah. Außerdem gab es noch ein Bad mit Toilette und einer alten, hohen Messingbadewanne.
Michaels Stimmung besserte sich nicht, und nachdem er ihnen alles gezeigt hatte und sie wieder die Treppe hinunterliefen, fragte sich Annabel erneut, was er vor ihnen verbarg und ob es etwas mit ihrer Situation zu tun hatte. Aber irgendwie konnte sie nicht glauben, dass er ihnen absichtlich etwas verheimlichte, was ihnen weiterhelfen könnte. Trotzdem hielt sie die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie würde ihn bei der nächsten Gelegenheit darauf ansprechen. Sobald sie mit ihm allein war.
»Leute, das müsst ihr euch ansehen!« Eric hatte die kleine Vorratskammer hinter der Treppe entdeckt und strahlte übers ganze Gesicht. »Verhungern werden wir jedenfalls nicht.« Annabel musste ihm beim Anblick der vielen Konservendosen recht geben. Von Corned Beef über Sardinen, gebackene Bohnen, Pfirsiche und Ananas bis hin zu Ravioli in Tomatensoße – es war für jeden Geschmack etwas dabei.
»Soll ich uns was kochen? Ich könnte…«
»Rührt ja nichts an!« George schnitt Eric einfach das Wort ab. »Bevor wir hier Unordnung schaffen, sollte Michael sich erst genauer umschauen. Vielleicht fällt ihm ja etwas auf, das anders ist als sonst oder nicht hierhergehört.«
Das Haus kennt die Fragen, weiß die Antworten. Findet die Tür. Findet die Tür zum Paradies. Annabel dachte an April Fays Worte, die sich in ihr Gehirn eingebrannt hatten, und seufzte. Wie es April wohl gerade erging? Hatte sie wirklich gehofft, die vier Jugendlichen könnten sie aus der Anstalt befreien? Wieder stieg die Erinnerung an ihren flehenden Blick und die Bitte, sie mitzunehmen, in Annabel auf.
Und plötzlich wusste sie, dass George recht hatte. Sie waren es April
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