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Remember

Remember

Titel: Remember Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Jungbluth
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funktioniert«, pflichtete Eric ihm bei.
    »Nicht nur bei dir«, sagte Michael. »Aber wir dürfen uns davon nicht unterkriegen lassen.«
    Annabel konnte sehen, wie Michaels einfache Worte Eric aufrichteten. Auch ihr tat es gut, ihm zuzuhören. Sie verstand, was er bezweckte. Er wollte verhindern, dass sich ihre Gedanken in einem Labyrinth aus Angst und Hoffnungslosigkeit verloren, und das war klug von ihm. Doch eines machte ihr nach wie vor Sorgen: Irgendwie hatten sie es alle geschafft, diesen verstörenden Gedanken zu verdrängen, aber solange sie den Brotkrumen folgten, würden diejenigen, die ihnen das eingebrockt hatten, immer wissen, wo sie waren. Und so war es für Annabel nur eine Frage der Zeit, bis ihnen etwas Ähnliches wie heute Nacht oder sogar etwas weitaus Schlimmeres widerfahren würde.
    28
    Schon wieder dieser Traum. Ich muss es beenden. Ich muss hier raus!
    Aber der Traum ließ ihn nicht gehen. George befand sich wieder auf dem Trafalgar Square und er wusste, was passieren würde. Wie bei einem Film, den man schon ein Dutzend Mal gesehen hat und dessen Dialoge man mitsprechen kann. Nur, dass er diesen Film nicht freiwillig sah.
    George wartete auf die unheimlichen Geräusche und den schleimigen Strom menschlicher Leiber, der sich aus der National Gallery ergießen würde. Und er wartete auf die Sonne und die fröhlichen Menschen, die lachend und ohne eine Ahnung von seiner Existenz durch ihn hindurchgehen würden. Und er wartete auf Annabel, die mit Michael und Eric das grausame Finale seines Traums bestreiten würde. Doch diesmal endete der Traum nicht damit.
    George schaute sich auf dem Platz um. Womit willst du mich denn noch quälen?
    In einer Gruppe von Menschen sah George die vertraute Silhouette einer Frau. Sie entfernte sich von ihm. Er folgte ihr. Die Frau bewegte sich schnell zwischen den Menschen hindurch, schaute nicht zur Seite und drehte sich nicht um. Der Abstand zu ihr vergrößerte sich, während George ängstlich jeden Kontakt mit den anderen Passanten vermied. Als sie um einen der Brunnen herumlief und die plötzlich hochschießende Fontäne ihm die Sicht raubte, verlor er sie aus den Augen. Er wandte sich in alle Richtungen und suchte verzweifelt den Platz ab. Er konnte sie nirgends entdecken. Als er schrie, nahm er an, dass seine Stimme wie immer versagen würde. Aber sie hallte laut und anklagend über den Platz: »MUTTER!«
    George weinte. Als er seinen Kopf senkte und in den Brunnen schaute, sah er sein verzerrtes Spiegelbild. Seine Tränen erzeugten Kreise auf der Wasseroberfläche. Im nächsten Augenblick befand sich George in einem großen Flur, dessen Wände mit einem dunkelroten Stoff bespannt waren. In seiner Mitte hing ein großer, kostbarer Spiegel. Er zeigte das Bild eines niedlichen fünfjährigen Jungen. Er kauerte auf dem Boden und schob ein Spielzeugauto hin und her.
    Jemand schrie. Eine schwere Tür fiel ins Schloss. Der Junge spürte die Erschütterung in seinem kleinen Körper. Eine Frau in einem teuren hellblauen Kostüm lief an ihm vorbei. Er hob den Kopf und der vertraute Duft ihres Parfüms wehte um seine Nase. Sie schenkte ihm keine Beachtung. George stand auf und folgte ihr in einen edlen Salon.
    »Kein Wort!«, sagte die Frau. Sie lief nervös hin und her, ihre hohen Absätze klackerten über das glänzende Parkett. »Ich will nichts von dir hören. Du bist ein Nichts.« Sie steckte sich mit hektischen Bewegungen eine Zigarette an. »Dein Vater hat dich gehasst, deshalb hat er uns verlassen. Er hat sich für dich geschämt. Schon bei deiner Geburt wusste ich, dass du nichts taugst. Ein widerliches, schleimiges Etwas warst du, das wie ein Tier aus mir herausgekrochen ist. Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.«
    George streckte seine kleinen Ärmchen nach der Frau aus. Aber sie entzog sich ihm. Als hätte er eine ansteckende Krankheit, wandte sie sich mit angeekeltem Gesichtsausdruck von ihm ab.
    George ging aus dem Zimmer. Er war wieder im Flur, stand vor dem kostbaren Spiegel. Er sah nur den Spiegel. Sich selbst sah er nicht.
    29
    Das Boot glitt über das spiegelglatte Wasser. Michael ruderte langsam und gleichmäßig. Obwohl es noch nicht mal zehn Uhr war, brannte die Sonne schon unerbittlich auf sie herab.
    Sie hatten beim Frühstück vereinbart, dass Eric und George das Ufer abliefen, während er mit Anna den See absuchte. Niemand wollte es wirklich. Aber letztendlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Hinweisen in den Stimmfetzen

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