Remember
fragte Michael. »Was hast du gesehen?«
Annabel dachte an den Schatten, an das Gesicht des kleinen Mädchens, an ihre traurigen, klagenden Augen und an ihren leblos schwebenden Körper, der, wie von einem unsichtbaren Band gezogen, davontrieb. Sie hatte es so deutlich gesehen, wie sie Michael jetzt vor sich sah.
Ich habe Rebecca gesehen , dachte sie verzweifelt. Ich habe deine kleine Schwester gesehen.
30
Eine halbe Stunde später stand Annabel vor dem Badezimmerspiegel und zog den Reißverschluss eines hellblauen Sommerkleides zu. Michael hatte es ihr aufs Bett gelegt. Es gehörte seiner Mutter, und wie es aussah, hatten sie und Annabel ungefähr die gleiche Größe. Als sie ihn gefragt hatte, ob das Kleid irgendeine Erinnerung bei ihm auslösen würde, hatte Michael nur den Kopf geschüttelt.
Annabel hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Das tote Mädchen im See war nur ein weiteres Hirngespinst gewesen, ein schreckliches Trugbild, ausgelöst durch zu wenig Schlaf und zu viel Sonne.
Das unheimliche Telefon und der Hinweis auf den See – letztendlich war das nichts weiter als ein mieser Trick gewesen, um ihnen Angst zu machen und den Verstand zu rauben. Michael hatte völlig recht. Genau das ist ihre Taktik. Und sie war darauf hereingefallen. Aber so was passiert mir nicht noch…
»Anna!«, hörte sie plötzlich Eric von draußen schreien. »Komm mal schnell!«
Annabel sprintete aus dem Badezimmer, rannte die Treppe hinunter und war Sekunden später auf der Veranda. Die drei Jungen standen am Ufer des Sees. Sie hatten den Kopf in den Nacken gelegt und starrten nach oben in Richtung Haus. Sie ging langsam auf sie zu, drehte dabei immer wieder den Kopf und sah nach oben. Aber noch konnte sie nichts entdecken.
»Der rechte Schornstein«, sagte Eric aufgeregt. »Da hängt etwas. Komm her und schau dir das an. Ich habe es dahinten vom Waldrand aus gesehen, als ich zurück zum Haus lief, die Sonne stand direkt darauf.«
Annabel stellte sich neben Eric. Ja, da war etwas. Ein Glitzern, wie von einem Spiegel, der das Licht reflektierte. Aber nein, kein Spiegel, das musste etwas anderes, Leichteres sein. Der schwache Wind spielte damit.
»Sieht aus wie ein Umschlag«, sagte Michael. »Vielleicht aus Aluminiumfolie?« Er schirmte seine Augen ab, um besser sehen zu können. »Ich werd ihn runterholen.«
Eric klopfte Michael lässig auf die Schulter. »Wenn das Ding inmitten einer wilden Büffelherde liegen würde, würde ich sagen, du machst das, mein kleiner Rugbykapitän. Aber das hier ist eindeutig ein Job für Spiderman.« Er trat einen Schritt vor, ohne das Dach aus den Augen zu lassen. »Sollte ich das hier allerdings nicht überleben… sagt allen… er hatte einen knackigen Hintern… bis zuletzt.«
Annabel und Michael sahen ihm schmunzelnd hinterher. George schüttelte nur den Kopf.
Eric nahm das Fenster des Elternschlafzimmers im ersten Stock. Er öffnete es und kroch über den niedrigen Sims ins Freie. Dort blieb er erst einmal in der Hocke, um die Umgebung einschätzen zu können. Und sehr schnell wurde ihm klar, dass es von unten viel leichter ausgesehen hatte.
Es war verdammt steil hier oben und einige Stellen sahen wirklich reparaturbedürftig aus. Eine lose Schindel, ein versteckter Nagel und aus war’s mit seinem jungen Leben. Zumindest aber mit seiner Karriere als Tänzer. Mit zittrigen Beinen stand er auf, überprüfte seinen Stand und machte sich auf den Weg.
Eigentlich hatte er vorgehabt, lässig wie ein Dachdecker auf dem Dach auf und ab zu spazieren. Doch die Schräge, die vor ihm in der gleißenden Sonne lag, konnte er nur im Schneckentempo bewältigen. Immer einen Fuß vor den anderen, bedächtig und vorsichtig.
»Du schaffst das, Eric!«, hörte er Annabels aufmunternden Ruf von unten.
»Ja, ich schaffe das«, sprach er sich selbst leise Mut zu. Doch der Zweifel in seiner Stimme machte ihm Sorgen.
Sein Ziel, der Schornstein, ragte nach einer gefühlten Ewigkeit endlich vor ihm auf. Er war keine drei Meter von ihm entfernt, aber das Stück bis dorthin hatte es in sich.
Hier machte das Dach noch einmal einen Knick und wurde, er konnte es kaum fassen, noch steiler. Klettern fiel also aus. Seine einzige Chance bestand darin zu springen. Eric kontrollierte noch einmal seinen Stand. Dann sah er hoch zum Schornstein, holte tief Luft, spannte seine Muskeln an und sprang mit voller Kraft ab. Begleitet von Annabels spitzem Schrei, machte er sich ganz lang, streckte die Arme aus und bekam
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