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Remember

Remember

Titel: Remember Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Jungbluth
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leichten Schrecken, doch der war bald überwunden.
    Während der Zug nach London einfuhr und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam, wägte George seine Möglichkeiten ab. Und noch bevor er gemeinsam mit den anderen den Zug bestieg, hatte er seine Entscheidung getroffen.
    Der Zug war so überfüllt, dass sie auf dem Gang stehen mussten. Doch als an der ersten Haltestelle eine kleine Reisegruppe ausstieg, drängten sich die vier in das leere Abteil und schlossen die Tür. Als George sich kurz darauf abmeldete, um aufs Klo zu gehen, war Annabel dankbar, dass sie einen Moment allein waren. George hatte sich selbst für seine Verhältnisse ziemlich unsensibel verhalten, als sie ihm von dem Vorfall erzählt hatten. Sie alle hätten sich das bestimmt nur eingebildet, weil sie zu wenig geschlafen hätten, hatte er behauptet, und dabei genauso geklungen wie Dr. Parker. Eric wäre fast ausgeflippt.
    Aber konnte sie George deshalb wirklich böse sein?, fragte sich Annabel. Schließlich hatte sie es mit eigenen Augen gesehen und glaubte es trotzdem nicht.
    Alle Versuche, darüber nachzudenken, geschweige zu reden, waren gescheitert. Also hatten sie es schließlich aufgegeben. Wie soll man auch etwas in Worte fassen, das der Verstand nicht begreifen kann, das weder Naturwissenschaft noch Psychologie erklären können?
    »Wisst ihr, was das Schlimmste ist?«, fragte Eric nach einer Weile. »Dass alle anderen das tun, was sie immer tun. Arbeiten, Einkaufen gehen, Spaß haben. Als wäre nichts passiert.«
    Annabel legte ihren Kopf an die Scheibe und spürte die Vibrationen des Zuges an ihrer Schläfe. Ihr warmer Atem schlug sich auf dem kühlen Glas nieder.
    »Irgendwo auf der Welt geschieht immer was Schreckliches«, sagte sie langsam. »Irgendwo ist Krieg und wir gehen ins Kino. Irgendwo verhungern Menschen und wir feiern eine Party. Irgendwo…«
    »Aber Irgendwo ist jetzt genau hier, Anna«, sagte Eric traurig.
    »Ich weiß. – Ich versuch mir gerade vorzustellen, wie es wäre, wenn sich wirklich jeder für jeden verantwortlich fühlen würde. Würden alle Mütter dieser Welt die Fenster öffnen und rufen: Kinder, hört auf zu spielen, irgendwo ist Krieg? Würde es den Leuten in Irgendwo dadurch besser gehen?«
    Eric seufzte.
    »Ich weiß nichts über Irgendwo , Anna«, sagte Michael. Seit dem Vorfall auf dem Bahnsteig hatte er sich die meiste Zeit in Schweigen gehüllt. »Aber mir kommt es im Moment so vor, als wären wir in der Hölle und hätten ein Fenster, durch das wir auf unser früheres Leben schauen können. Gegen etwas Hilfe oder Anteilnahme hätte ich nichts einzuwenden.«
    »Aber wir sind nicht in der Hölle«, erwiderte sie leise.
    »Ich weiß. Es fühlt sich nur manchmal so an.«
    36
    Michael schreckte auf, als der Zug in den Bahnhof ratterte und er durch eine Lautsprecherdurchsage geweckt wurde. Draußen auf dem Gang machten sich die anderen Reisenden bereits zum Aussteigen bereit.
    Er wunderte sich, dass ihm trotz seines Erlebnisses mit dem Gepäckwagen die Augen zugefallen waren. Vielleicht war es eine Art Notabschaltung, damit sein Gehirn nicht überlastete. Auf jeden Fall fühlte er sich jetzt wieder etwas besser.
    »Sind wir schon da?« Auch Annabel schaute verwirrt aus dem Fenster.
    »Sieht so aus«, sagte Michael knapp. Er öffnete die Abteiltür.
    »Wo, verdammt noch mal, ist eigentlich George?«, fragte er. »Er weiß doch, dass wir hier rausmüssen.«
    Er drehte sich zu den beiden anderen um, aber die zuckten nur mit den Schultern.
    Hatten sie es nur verschlafen oder war George von seinem Gang zur Toilette gar nicht zurückgekehrt?
    Michael drängte sich aus dem Abteil und versuchte, über die vielen Leute im Gang zu blicken, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
    »Der wird sich irgendwo anders im Zug einen Platz gesucht haben«, sagte Annabel, die sich jetzt zusammen mit Eric hinter Michael gesellte. »Vielleicht brauchte er einfach etwas Zeit für sich.«
    Unsanft stoppte der Zug im Bahnhof. Die Türen schwangen auf und die Waggons entleerten ihre Fracht auf den Bahnsteig.
    Die drei blieben in der Nähe der Tür und musterten die Reisenden, die hinter ihnen aus dem Zug kamen. Als der Strom versiegte und die neuen Fahrgäste einstiegen, teilten sie sich auf und spähten in die Fenster des Zuges. Die Letzten, die den Waggon verließen, waren ein altes Ehepaar mit einer Unmenge von Koffern und ein gehbehindertes Mädchen, das mitsamt ihrem Rollstuhl aus dem Zug getragen werden musste. Doch von George

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