Remember
Michael lachte und ging weiter.
Annabel fühlte einen völlig irrationalen Anflug von Eifersucht. »Wohnt sie noch hier?« Was frage ich denn da?
»Weiß ich gar nicht. Wir haben uns irgendwann aus den Augen verloren.«
War wahrscheinlich eine miese Küsserin. Hah! – Oh, Anna. Reiß dich zusammen!
»Kannst du dich noch an deinen ersten Kuss erinnern?«
»Kuss? – Anständige englische Mädchen bekommen ihren ersten Kuss nicht, bevor sie zwanzig sind. Wir sind doch keine Franzosen.«
Michael lachte und übersah dabei eine Wurzel. Er stolperte, ruderte mit dem freien Arm in der Luft und wäre beinahe mit dem Rad in ein paar umliegende Brennnesseln geplumpst.
»Wirklich anmutig«, frotzelte sie. »Nimmst du etwa auch Ballettunterricht wie Eric?«
Michael lachte wieder und drehte sich kurz zu ihr um.
Wie er mich ansieht. Annabel hätte nun doch gern gewusst, was für Michaels Veränderung verantwortlich war. »Michael?«
»Ja?«
Sie zögerte. Vielleicht ist es doch nur die Ruhe vor dem Sturm. »Ach, nichts.«
Michael lächelte sie an.
Oh, er ist so süß. Wenn er mich noch mal so anschaut, küss ich ihn.
Einen Augenblick später traten sie aus dem Wald ins Freie. Vor ihnen, hinter ein paar sanft geschwungenen Hügeln mit Feldern und Wiesen, lag Willowsend in strahlendem Sonnenschein. Sie bestiegen wieder ihre Fahrräder und folgten dem Feldweg in Richtung Dorf. Vereinzelte Baumreihen säumten den Weg und spendeten hin und wieder angenehmen Schatten. Auf einer kleinen Steinbrücke, die über einen Bach führte und im Schutze einer alten Eiche lag, machten sie halt.
»Schau mal«, sagte Michael und deutete aufs Wasser.
»Sind das Forellen?«
»Mmhmm. Ganz schöne Biester, was? Rebecca und ich haben mal versucht, welche mit der Hand zu fangen. Ich bin bloß ins Wasser gefallen, doch sie hat tatsächlich eine erwischt. Hat sich in den Bach gestellt und sie mit beiden Händen ans Ufer geworfen. Ein Bauer aus der Gegend hatte uns den Trick gezeigt.«
Michael sprach zum ersten Mal über seine Schwester ohne diesen traurigen Unterton in seiner Stimme. Annabel versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, ob es ihm wirklich gut ging. Und sie fand, dass er fast glücklich aussah. Nein, er verstellte sich nicht.
»Michael, ich muss dich was fragen.«
»Schieß los.«
»Ist etwas passiert? Du bist so… ich weiß auch nicht… verändert.«
»Ach so. Ich dachte schon, du wolltest wissen… Egal. Mir geht’s gut, Anna. Wirklich. Mach dir keine Sorgen. Heute Morgen ist tatsächlich etwas passiert. Aber ich will im Moment noch nicht darüber reden, verstehst du?«
»Erzählst du es mir irgendwann?«
»Irgendwann. Versprochen.«
Annabel war beruhigt. Was immer für die Veränderung verantwortlich war, es musste etwas Schönes gewesen sein.
»Was dachtest du eben eigentlich, was ich dich fragen wollte?«
Michael lachte, stieg in den Sattel und fuhr langsam an. »Ich dachte, du wolltest wissen, ob das Mädchen aus dem Dorf gut küssen konnte.«
Annabel wurde rot und ließ sich absichtlich ein Stück zurückfallen. Es machte ihr Sorgen, dass Michael ihr die geheimsten Gedanken offensichtlich an der Nasenspitze ablesen konnte.
Der Feldweg mündete bald auf die Willow Road, eine schmale Landstraße, die in nördlicher Richtung ins Dorf führte, in südlicher in die Old Kent Road überging und somit zum Haus am See führte. Das Dorf lag leicht erhöht, und weil es schon ziemlich heiß war, fuhren sie in gemächlichem Tempo weiter. Sie kamen an einer eingezäunten, saftig grünen Wiese vorbei, auf der Schafe mit ihren Lämmern grasten. Und direkt dahinter, am Rande des Dorfes, standen zwei hübsche strohgedeckte Häuschen. Sie waren umgeben von grünen Hecken, Obstbäumen und großen alten Weiden.
Annabel war hingerissen. Am liebsten hätte sie sich mit einem Stuhl auf die Weide gesetzt, um von der traumhaften Kulisse Dutzende von Zeichnungen zu machen und alles andere zu vergessen. Als sie bei ihrer Ankunft mit dem Bus zum Haus gefahren waren, hatte sie von der romantischen Szenerie nicht viel mitbekommen. Sie erinnerte sich an das Beet mit den Sonnenblumen und wie sie Michael verraten hatte, dass das ihre Lieblingsblumen seien. Vor allem aber erinnerte sie sich an die Angst, die sich im Bus grinsend auf ihren Schoß gesetzt hatte und die seitdem nicht mehr von ihrer Seite gewichen war. Bis jetzt.
Wenig später passierten sie die ersten Häuser des kleinen Dorfes.
So gut wie alle Geschäfte befanden sich auf der
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