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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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Gehirnfunktion wirkt«, sagte Sylvia und zog fast theatralisch an ihrer Zigarette. »Ob das tatsächlich funktioniert?« Christian seufzte. Es war ein komisches Gefühl, plötzlich über das eigene Fachgebiet zu reden. »Zumindest im Fall von Zyban ist der Wirkstoff Bupropion. Dabei handelt es sich ursprünglich um ein Antidepressivum, aber in kleinen Dosen kann man versuchen, sich damit das Rauchen abzugewöhnen.«
    »Was untersuchst du eigentlich bei deiner Arbeit genau?«
    »Medikamente der neuen Generation. Molekulare Neurobiologie. Aber das Projekt liegt auf Eis«, sagte Christian vorsichtig, auch wenn die Verletzung der Schweigepflicht im Zusammenhang mit seiner Arbeit derzeit zu seinen geringsten Sorgen zählte. »Und was ist das für ein Projekt?«
    »Wir versuchen, ein Peptidmedikament für die Behandlung von Drogenabhängigkeit zu entwickeln, das auf die nerventransmitterstoffspezifischen Rezeptoren wirkt.« »So wie man mit neuartigen Antidepressiva die Übertragungstätigkeit der Nervenimpulse korrigiert und dadurch die Stimmung des Patienten steigert?« »Ungefähr in die Richtung geht es. Kennst du dich damit aus?«
    »Ich hab mal etwas über Prozac gemacht. Geht ihr davon aus, dass es sich bei Drogensucht um eine psychische Funktionsstörung handelt?«
    »Zugespitzt formuliert, ja. So wie Depressionen eine psychische Funktionsstörung sind.«
    »So ein Schwachsinn«, schnaubte Sylvia. »Depressionen haben nichts mit psychischen Funktionsstörungen zu tun. Es gehört zu den Grundrechten der menschlichen Existenz, schwermütig zu sein. Das ist keine Krankheit, sondern unsere Angst. Wir haben Angst zu leben und Angst zu sterben. Wir haben Angst, mit anderen Menschen zusammenzuleben. Kein Medikament kann darauf Einfluss nehmen, wie wir das Leben wahrnehmen und verstehen.«
    »Jetzt übertreibst du aber schwer.«
    Sie erreichten einen Platz mit Grünanlage, Holzbänken, einigen Kiosken und niedrigen Palmen. Von einem Geschäft, das Videokameras verkaufte, war noch immer nichts zu sehen.
    »Das Verfüttern von Antidepressiva im großen Stil ist ein von der Pharmaindustrie programmierter Wahn«, fuhr Sylvia mit bitterem Unterton fort. »Wir kommen aus dem Nichts und kehren ins Nichts zurück. Der depressive Mensch sieht die Vergänglichkeit von allem. Er zieht den Vorhang zur Seite, den die abendländische Kultur vor dieser unangenehmen Wahrheit aufgehängt hat, um sich selbst zu täuschen. Der Zweck von Medikamenten gegen Depressionen besteht lediglich darin, den Vorhang da zu lassen, wo er ist.«
    In der Anlage spielten kleine Kinder Fußball. Christian war überrascht, als er auf Sylvias Gesicht ein sonniges Lächeln sah.
    »Wenn ich Kindern beim Spielen zusehe«, sagte sie, »beneide ich sie um eines mehr als um alles andere. Nämlich darum, dass sie nicht wissen, wie begrenzt die Zeit ist. In ihrer Welt ist sie noch grenzenlos vorhanden.«
    »Jeden Tag schlucken fünfzehn Millionen Menschen Tabletten gegen Depressionen«, erwiderte Christian. »Aber du weißt besser als all diese Menschen, was gut für sie ist?« »Was ist denn damit gewonnen, wenn wir uns mit Tabletten zudröhnen und die Wirklichkeit hinter rosa Schleiern verbergen ? Dann ist das Erwachen im Alltag nur umso bitterer. Außerdem: Sind Antidepressiva etwa keine psy-choaktiven Medikamente? Also Drogen?«
    »Im Prinzip schon. Sie stimulieren physiologisch die Gehirnfunktion.« »Du hast also auch dein Laster, obwohl du nicht rauchst.«
    Christian merkte, wie er rot wurde. Hinter einem weit offen stehenden Tor waren alte Häuser und ein massiver, viereckiger Glockenturm zu erkennen. Sie kamen in den Schatten der mittelalterlichen Gemäuer.
    »Hast du gewusst, dass die Gebäude hinter diesen Mauern von Venezianern errichtet wurden?«, fragte Sylvia und versuchte vergebens, die emsigsten Bettler zu verscheuchen, die sich um sie geschart hatten.
    »Das wusste ich nicht«, gab Christian zurück. »Mich interessieren im Moment auch mehr die Elektrogeschäfte.« Sie bogen in eine belebte Straße ein, und Christian hielt nach einem passenden Laden Ausschau.
    »Hoffen wir, dass niemals Kanonen die Mauern von Kotor zum Einsturz bringen werden«, sprach Sylvia weiter, mehr zu sich selbst als zu Christian. »Die Nato hat eine Riesenmenge an historischem Kulturerbe im Kosovo bombardiert, sogar die im 12. Jahrhundert erbauten Klöster der Heiligen Mutter und des heiligen Nikolaus in Kursumlija.«
    »Du redest wie meine Exfreundin, die Archäologin ist.

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