Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
Zimmer standen. Vorsichtig öffnete sie den ersten und nahm eine in Zeitungspapier eingewickelte kleine Vase heraus. Der Gravierung nach ein Hochzeitsgeschenk. Die Zeitung war neu, vom letzten Wochenende.
Johanna wurde wachsam. Sie öffnete den zweiten Karton. Dort waren sorgfältig Haushaltsgegenstände und persönliche Dinge der Karams eingepackt, unter anderem Sommerkleider. Warum? War es in ihrer Wohnung zu eng? Gewiss nicht, in dem Haus war fürstlich Platz für zwei Personen. Benutzte Tuija das Haus von Eevert als eine Art Lager? Warum waren die Sachen gerade jetzt eingepackt worden?
Johanna wühlte in dem Karton. Tief unten fand sie alte Klassenfotos und ein Fotoalbum. Sie sah sich eines der Klassenfotos an. Die Schülerin in der Mitte der unteren Reihe hielt ein Schild, auf dem stand: Valkeinen-Schule, 4. Klasse.
Johanna erkannte den Lehrer, es war Alpo Yli-Honkila. Sie führte die Lampe näher heran, um besser sehen zu können. Von dem Dutzend Schüler auf dem Bild erkannte Johanna drei: Erja, Anna-Kristiina und Lea. Über allen, auch über dem Lehrer, war mit Kugelschreiber ein Kreuz gemalt worden – so wie man es früher auf Fotos tat, wenn der abgebildete Mensch gestorben war.
Das Kreuz über dem Kopf des Lehrers war größer als die anderen, der Stift war so heftig hin und her gefahren, dass die Bildoberfläche beschädigt war.
Johanna grauste es, obwohl es aussah, als hätte der Stift schon vor langer Zeit seine Spuren hinterlassen. Hatte Tuija sich voodoomäßig den Tod all dieser Menschen gewünscht, oder hatte sie mit den Kreuzen die Gläubigen ihrer Klasse markiert? Oder beides?
Im selben Stapel mit dem Klassenfoto war ein Bild, das Tuija als etwa Dreizehnjährige mit einem Hund im Arm zeigte. Es war das einzige Bild, auf dem sie glücklich aussah. Die Finger des Mädchens kraulten das Fell des kümmerlich wirkenden Spitz-Mischlings.
Johanna nahm ein dünnes Album mit Kunststoffeinband, das mit dem Logo der Sparkasse versehen war, in die Hand. Es enthielt Fotos aus der frühen Kindheit. Tuija beim Heumachen, beim Schieben des Milchkarrens, beim Backen von Karelischen Piroggen. Es bestand keine Unklarheit darüber, wo sie das Arbeiten gelernt hatte. Auf einem Foto wusch sie zusammen mit ihrem kleinen Bruder einen orangefarbenen Skoda. War dies das Auto, in dem ihr die Familie genommen worden war?
Auf einem der letzten Bilder saß Tuija auf dem Schoß ihres Vaters – eines ernsten Mannes im Wollpullunder. Tuijas Miene war düster. Die häusliche Atmosphäre, die durch das Bild vermittelt wurde, hatte etwas Bedrückendes. Hatte die Familie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten gesteckt? Oder war sie von einer Krankheit heimgesucht?
Das letzte Bild im Album ging Johanna an die Nieren. Tuija stand vor zwei großen Särgen und einem Kindersarg. Ein kleines Mädchen in schwarzen Kleidern. Allein.
Johanna klappte das Album zu, musste es aber sogleich wieder aufschlagen, um sich die letzte Aufnahme noch einmal anzusehen. Sie betrachtete das Mädchen mit dem unerforschlichen Blick, das nicht weinte.
Wieder klappte Johanna das Album zu. Die Atmosphäre der früheren Fotos in Kombination mit dem Wissen über den Tod der ganzen Familie bei einem Autounfall brachte Johanna fast zwangsläufig auf den Gedanken, der Unfall könnte womöglich beabsichtigt gewesen sein. Ein überraschend großer Teil aller Verkehrsunfälle waren Selbstmorde. Ob Tuija etwas geahnt hatte?
Johanna fand auf dem Boden des Kartons einen braunen Briefumschlag und zog alte Dokumente heraus. Zuoberst lag ein Protokollauszug von einer Versammlung des Vormundschaftsausschusses der Gemeinde Pudasjärvi. Es handelte sich um einen Durchschlag des Originals. Datiert im September 1985.
»Tuija Hyppönen, Vormund Eevert Rahkola …«
Johanna schob die Papiere in den Umschlag zurück, aber das gelang nicht, weil sich in dem Kuvert etwas sperrte: ein vergilbter Ausschnitt aus der Zeitung ›Karjalainen‹, die in Joensuu erschien.
Johanna sah sich die dreispaltige Meldung an und erschrak. VAER TÖTET FRAU UND KIND.
Johanna blickte auf das Datum am oberen Rand. 15. 5. 1985. Um wen ging es in der Meldung, und warum hatte Tuija sie aufbewahrt? Johanna las den Text. Er berichtete von der erschütternden Gewalttat eines Kleinbauern aus Lieksa. Der Mann hatte zuerst seinen achtjährigen Sohn erschossen und danach seine Frau, die versucht hatte, dazwischenzugehen. Die zehnjährige Tochter hatte fliehen können, obwohl der Vater ihr ein kurzes
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