Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
aus Zahli in den Karton, aus Rafiqs Heimat in der Nähe der Bekaa-Hochebene im Libanon. Die Sonne ging gerade unter, Rafiqs Verwandte saßen beim Essen, Tuija unter ihnen. Geld gab es in Zahli nicht viel, aber die Lebenshaltungskosten waren dafür nicht hoch. Und es gab keinen überflüssigen Papierkrieg. Rafiqs Cousin war in England wegen Scheckbetrugs verurteilt worden, aber weder im Menschengewimmel der Basare und adressenlosen Straßen, noch in den Dörfern war ihm jemand auf die Spur gekommen. Kein Libanese verriet einen seiner eigenen Leute.
Tuija schloss den Karton. Wenn ein Außenstehender das Regal ansah, würde er nicht merken, dass etwas fehlte. Sie ging in die Küche zu Rafiq. Draußen war der Wind stärker geworden. Für den Nachmittag und den Abend war ein Schneesturm angesagt. Rafiq betrachtete seine Frau so zärtlich wie immer.
»Ich habe darüber noch nie mit jemandem geredet, aber jetzt will ich dir etwas erzählen«, sagte Tuija.
Rafiq sah sie fragend an.
»Du erinnerst dich doch an den Lehrer, der mich so schlecht behandelt hat …«
Rafiq nickte. Seit Jahren sprach Tuija von Alpo Yli-Honkila, und davon, wie er sie verfolgt hatte.
»Ich war mit Ilona am See, da sah ich jemanden schwimmen«, sagte Tuija leise. »Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass es der Lehrer war.«
Rafiq sah seine Frau schweigend und erwartungsvoll an.
»Gerade als ich weitergehen wollte, fiel mir etwas Sonderbares auf. Er schwamm ganz dicht am Ufer und gab dabei komische Laute von sich. Er röchelte und keuchte. Er versuchte um Hilfe zu rufen.«
Tuijas Blick wurde schärfer. »Ich blieb stehen. Er hatte wahrscheinlich einen Herzanfall. Ich hätte ins Wasser waten, zu ihm schwimmen und ihn ans Ufer ziehen können. Aber ich blieb einfach stehen. Er ging unter, kam aber wieder an die Oberfläche. Ich starrte ihn an. Und hoffte aus ganzem Herzen, er würde wieder untergehen. Und so war es dann auch. Er ging unter. Ich schaute eine Weile auf die Wasseroberfläche, die sich allmählich beruhigte. Dann ging ich weiter und sprach nie mehr ein Wort davon. Am Abend bekam ich Angst, dass er es doch an Land geschafft hatte und von jemandem zum Arzt gebracht worden war. Und dass er sich daran erinnerte, wie ich am Ufer gestanden hatte, ohne ihm zu helfen. Als ich am nächsten Tag an der Schule vorbeiging, war die Fahne auf Halbmast. Da war ich wahnsinnig erleichtert. Die Qual war zu Ende. Ich dachte, vielleicht gibt es doch einen Gott.«
Rafiq nahm Tuijas Hand. »Zerbrich dir über diese Dinge nicht mehr den Kopf. Du hättest ihn nicht retten können. Du warst ein Kind, du konntest das nicht besser verstehen.«
Tuija riss ihre Hand los. »Retten? Kapierst du denn überhaupt nichts?«, fauchte sie. »Ich wollte ihn nicht retten. Ich wollte ihn töten … diese sadistische Bestie töten. Nie mehr habe ich jemanden so gehasst wie ihn.«
Tuijas Blick ging ins Leere. »Außer dem Mann, der mir Ilona nahm. Ich wünschte mir, Gott – falls er doch existierte – würde den Mann bestrafen. Aber nein … Kohonen setzte sein erbärmliches Dasein fort. Einmal schlich ich auf sein Grundstück, als er mit der Kreissäge Holz machte. Ich überlegte, ob ich ihn irgendwie in die Klinge stoßen könnte, aber das Risiko wäre zu groß gewesen. Und die Strafe zu gering. Zu … kurz. Ich schaffte es einfach nicht. Schließlich begnügte ich mich damit, seinen alten Speicher anzuzünden.«
Rafiq sah Tuija ernst an. Der warme Blick, der sonst immer in seinen dunklen Augen lag, war verschwunden.
»Du frisst deinen Hass in dich hinein«, flüsterte er. »Das ist gefährlich. Das Böse bleibt in dir. Und wächst, bis es dich beherrscht. So ist es auch Hamid gegangen, er …«
»Nein. Das alles ist jetzt vorbei.« Tuija lächelte. »Ich bin rein. Mich belastet nichts mehr.«
Johanna sah sich die Buchrücken in Tuijas Zimmer an. Die meisten waren Schulbücher, aber ein paar alte Werke weckten ihre Aufmerksamkeit. Ein abgegriffenes Buch nahm sie in die Hand. V. T. Aaltonen: ›Warum ich kein Christ bin‹, Freidenkerverband, 1952.
Eevert hatte vorn mit Füller seinen Namen hineingeschrieben. Mit dem gleichen Themenkreis beschäftigten sich auch viele andere Werke.
Die Dämmerung schien früher als sonst einzusetzen. Durch die brüchigen Fensterrahmen drang der Wind ins Haus, und die nackten Birkenzweige peitschten die Holzverkleidung des Hauses. Innen roch es feucht und nach Schimmel.
Johanna sah sich die Kartons an, die in einem der
Weitere Kostenlose Bücher