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Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Titel: Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geiseln
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angesichts der Umstände sehr ruhig. Er schwieg eine Weile, dann sagte er leise: »Wenn aus der Perspektive Moskaus das Ziel des Anschlags auf die Residenz darin bestand, Finnland Angst einzujagen, damit es sich von der Nato fernhält, hätte die Wirkung dann nicht ihr Maximum erreicht, wenn sie mich umgebracht hätten?« Timo überlegte kurz. »Ja. Und diese Möglichkeit haben sie auf jeden Fall in Betracht gezogen, als sie eine derart gewaltsame Operation akzeptierten. Sie wussten, dass dabei alles passieren konnte. Und was auch passiert wäre, es wäre auf das Konto der Serben gegangen.«
    Koskivuo sah schweigend vor sich hin. Es hatte den Anschein, als wären seine rosigen Vorstellungen von der internationalen Großmachtpolitik dem nüchternen Blick auf die schäbigen Realitäten gewichen. Zum ersten Mal im Verlauf der vergangenen Nacht und dieses Morgens empfand Timo Mitleid mit dem Präsidenten.
    »Wenn ich jetzt, vom Fleck weg, Entscheidungen treffen müsste, würden sie anders ausfallen als zuvor«, sagte der Präsident.
    Timo verstand nicht, worauf Koskivuo hinauswollte, scheute sich aber, allzu neugierig zu erscheinen. »Große Entscheidungen sollte man nicht in der Aufregung treffen.«
    »Manchmal muss man bereit sein, über die Dinge dann zu entscheiden, wenn man sie frisch im Sinn hat. Die Zeit verwässert die Sicht der Dinge. Man vergisst. Oder versucht zu vergessen.«
    Koskivuos Stimme wurde immer leiser. Er war nicht mehr derselbe wie am Tag zuvor in Helsinki.
    »Im schlimmsten Fall nimmt einem die Zeit ganz die Möglichkeit zu handeln.«
    Timo sah den Präsidenten fragend an.
    »Ich weiß jetzt, worum es bei den Ereignissen der vergangenen Nacht ging«, murmelte der Mann vor sich hin. »Aber wenn mir jetzt etwas zustößt, kann ich nicht mehr auf der Grundlage meiner neuen Erkenntnis handeln. Ich kann niemandem ein Testament hinterlassen.« »Es gibt keinen Grund, über ein Testament nachzudenken«, sagte Timo so beruhigend, wie er nur konnte.
    Koskivuo saß mit hängenden Schultern da und starrte müde vor sich hin. Timo hätte den resigniert wirkenden Mann gern getröstet, aber es gelang ihm nicht, die richtigen Worte zu finden.
70
    Am nächsten Tag wurde der Großraum Helsinki von Sturm und heftigem Schneeregen geplagt. Das Gebäude der Zentralkriminalpolizei war auch aus der Nähe nur als graue, diffuse Silhouette zu erkennen.
    Timo stellte in der schmucklosen Cafeteria sein Tablett auf den Tisch und nahm Johanna gegenüber Platz. Das blasse, ernste Gesicht der Kollegin machte ihm Angst. Am Telefon hatte sie ihm erzählt, sie würde gut schlafen, aber so sah sie ganz und gar nicht aus. Timo stellte eine der Kaffeetassen, die er geholt hatte, vor Johanna hin.
    »Was ist los?«, fragte er. »Ist etwas passiert?«
    »Ja.«
    Johanna sprach nicht weiter, sondern saß nur regungslos da. An ihrem Hals war ein kleines, unauffälliges Pflaster zu erkennen.
    Timo machte sich ernsthaft Sorgen. »Lass uns irgendwo hingehen und in Ruhe reden.«
    »Nein, bleiben wir ruhig hier. Ich kann nicht reden. Noch nicht.« Timo hatte kaum richtig den Mund aufgemacht, als Johanna schon hinzufügte: »Glaub es mir einfach.« Sie nahm den Löffel und rührte in ihrem Kaffee. »Wie geht es bei dir?«
    Timo sah Johanna in die Augen, in dem Versuch, darin etwas zu lesen, aber es gelang ihm nicht. Hatte sie einen posttraumatischen Schock erlitten?
    »Bei mir?«, lachte Timo kurz auf. »Von Schweden aus drängen sie mich, über die Vorfälle in Arlanda zu diskutieren. Sie meinen es furchtbar ernst. Was an sich ja auch verständlich ist.«
    »Du solltest dich am besten dort nicht mehr blicken lassen. Die stecken dich sofort hinter schwedische Gardinen«, sagte Johanna. In ihren Augen lag keine Spur von dem Lächeln, um das sich ihr Mund bemühte. »Na, das wird sich mit Worten schon aus der Welt schaffen lassen, auch wenn Navarro zutiefst beleidigt ist.«
    »Navarro hat bestimmt längst psychologische Kriseninterventionshilfe bekommen. In der empfindlichen Seele eines Porzellanmalers kann es schlimme Spuren hinterlassen, wenn er mit der Waffe bedroht wird.« »Das hinterlässt in jeder Seele schlimme Spuren«, schmunzelte Timo. »Auch in deiner und meiner. Und in ihren Seelen ebenfalls.« Er machte eine Kopfbewegung zu der Boulevardzeitung, die auf dem Tisch lag und auf deren Titelseite der Präsident mit einer Wolldecke um die Schultern über das verregnete Rollfeld des Flughafens Helsinki-Vantaa ging. Auf einem anderen Foto

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