Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
sah man die übrigen Geiseln den Airbus verlassen. Plötzlich legte Johanna ihre Hand auf Timos Hand. So etwas hatte sie noch nie getan. Erstaunt sah Timo sie an. Im selben Moment nahm Johanna die Hand weg, griff zur Zeitung, schlug sie auf und zeigte Timo einen Artikel.
»Hast du das schon gesehen?«
Timo nickte schwach. Die Überschrift verkündete: »Umfrage: 91 Prozent der Bevölkerung nach den Ereignissen vom Unabhängigkeitstag gegen Nato-Mitgliedschaft« .
Timo war nicht überrascht. Diese Reaktion der Bevölkerung war zu erwarten gewesen. In Moskau hatte man genau richtig kalkuliert. Schade, dass man den Finnen nicht irgendwann offiziell mitteilen konnte, welchen, Anteil die Russen an den Ereignissen hatten. Außer Timo und Johanna kannte nur der Präsident die Wahrheit. Aufgrund ihres Diensteides durften die beiden Polizisten ihre Information nicht weitergeben, und der Präsident konnte es aus politischen Gründen nicht tun. Ein anderer Präsident hätte es vielleicht sogar fertiggebracht, nicht aber Koskivuo, der während seiner gesamten Karriere vor Moskau gekrochen war.
Timo sah Johanna an. »Was hast du eigentlich auf dem Herzen?« »Lass uns später darüber reden. Aber was sagst du dazu? Einundneunzig Prozent.«
»Was soll man dazu sagen? Das Volk weiß Bescheid. Und die Politiker ebenfalls. Bald dürfen wir wieder einem von ihnen zuhören«, sagte Timo mit Blick auf den Fernseher, der oben an der Wand auf einem Regalbrett stand. Um dreizehn Uhr sollte eine Ansprache des Staatspräsidenten übertragen werden.
»Gibt es aus Minsk etwas Neues?«, fragte Johanna.
Timo schüttelte den Kopf. Bei der TERA waren über die Serben keine Informationen eingegangen. Die weißrussischen Behörden hatten mitgeteilt, den von Timo angegebenen Ort aufgesucht zu haben, aber der Gutshof sei leer gewesen - keine Leichen, und schon gar keine gefesselten Personen.
Der Peilsender befand sich jedoch noch immer an derselben Stelle, weshalb zumindest die Kleider, die von den Serben im Flugzeug getragen worden waren, noch im Gutshof oder in dessen unmittelbarer Umgebung sein mussten. Wo aber waren die Personen? Timo tippte auf Russland, und diese Annahme wurde durch eine Geheimdienstinformation aus den USA bestätigt: Am Vorabend war in Minsk ein zehnsitziger YAK-Learjet gestartet, der üblicherweise von einer Deckorganisation des russischen Geheimdienstes benutzt wurde.
Was aber war mit den Serben in Russland geschehen? Timo hatte diesbezüglich eine unangenehme Ahnung.
Er drehte seinen Stuhl, um den Fernseher besser sehen zu können. Einige andere Leute in der Cafeteria taten es ihm gleich. Auf dem Bildschirm erschien die Residenz des Präsidenten, darüber war das Staatswappen mit dem Löwen eingeblendet. Fernsehansprachen des Präsidenten waren in Finnland nicht üblich, aber in der aktuellen Situation schien es nur natürlich, ja sogar unabdingbar.
»So, so, Tröstungen für das Volk«, sagte Timo. »Muss für den Redenschreiber eine Herausforderung gewesen sein.«
Johanna schaute unverwandt auf die Mattscheibe. Koskivuo saß hinter einem Schreibtisch, auf dem die finnische Flagge stand, genau wie bei der Neujahrsansprache. Der Drehort war allerdings nicht das Arbeitszimmer des Präsidenten in der Residenz, denn das hatte Schaden genommen, sondern ein Studio. Nicht einmal die dicke Fernsehschminke reichte aus, um die schwarzen Augenringe und die grauen Wangen des Staatsoberhauptes zu überdecken.
»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. . .«
Koskivuo musste sich räuspern. In der Cafeteria wurde es still. »Wir Finnen sind es nicht gewohnt, über unsere Gefühle zu sprechen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. . . «
Timo seufzte. Die Rede schlug gleich zu Beginn die Richtung ein, die er vorausgesehen hatte. Koskivuo verdichtete die Ereignisse des 6. Dezember in wenigen Sätzen, die einem Menschen, der sich von einem Schock erholte, angemessen waren - aber waren solche Sätze auch einem Staatsoberhaupt angemessen, das die Fähigkeit besitzen sollte, das Land in jeder Art von Krise und unter jedwedem Druck zu führen ? »Die Angreifer zwangen uns, am Abend des Unabhängigkeitstages einen Videofilm zu zeigen, der vom Kosovokrieg berichtete. In diesem Film wurde die Nato als Ursprung alles Bösen dargestellt. Die Gräueltaten der Serben wurden vollständig übergangen. Aber gerade um jene Gräueltaten zu verhindern, war die Nato gezwungen gewesen, ihre Kräfte einzusetzen . . . « Timo spitzte die Ohren,
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