Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
einen Moment hier bleiben?«, fragte er.
»Das geht leider nicht.«
»Kann ich wenigstens das Foto dort mitnehmen?« Er deutete auf das Bild von Großvater, Vater und Radovan.
Der Polizist sah es sich an. »Tut mir leid«, sagte er bedauernd. Vasa seufzte und stand auf.
»Würden Sie uns bitte noch sagen, wie Sie zu erreichen sind.« Vasa nannte seine Telefonnummer und seine E-Mail-Adresse. Als er kurz darauf vor dem Haus stand, wählte er sofort Milas Nummer. Er verfluchte sich selbst, weil er vor lauter Aufregung erzählt hatte, er sei am Tag zuvor bei Mila gewesen. Allerdings hätte er auf keinen Fall stattdessen Torna oder Zlatan oder einen von den anderen erwähnen können.
»Mila, es sind entsetzliche Dinge passiert.« Vasa kam sofort zur Sache. Er hätte ihr gern alles von Angesicht zu Angesicht erzählt, aber jetzt musste die Information schnell ankommen.
»Ich habe es in den Nachrichten gehört.«
»In den Nachrichten? Was?«
»Dass Vater versucht hat, in Finnland aus dem Gefängnis zu fliehen. Und ein Helfer starb bei einem Feuergefecht mit der Polizei.«
Das war kein Feuergefecht, hätte Vasa am liebsten gebrüllt, das war eine Hinrichtung.
»War es Radovan?«, wollte Mila wissen und klang dabei wie ein kleines Kind.
»Ja.« Eine Welle von Trauer und Schuldgefühlen machte seine Stimme zu einem dünnen Hauch.
»Dieser Idiot. Was hat er nur getan...« Mila fing an zu schluchzen. »Mila, hör mir genau zu! Wenn die Polizei dich nach mir fragt, dann sagst du, dass ich gestern bei dir war. Am Nachmittag. Um dir eine Platte von Marcus Miller zurückzubringen.«
»Was redest du da? Warum sollte ich lügen...« Mila verstummte, fuhr aber plötzlich mit kalter, zorniger Stimme fort: »Du willst doch damit nicht sagen, dass du ...«
»Natürlich nicht. Das hat mit etwas anderem zu tun. Tu, was ich sage. Ich kann jetzt nicht reden, ich komme gegen Abend vorbei.«
Vasa legte auf. Er musste sich beeilen. Torna und die anderen wären außer sich. Wenn er in den Verdacht geriet, ein Verräter zu sein, konnte er von den eigenen Leuten eine Kugel in den Kopf bekommen. 34
10
Regentropfen trommelten am frühen Abend gegen die Fenster des Sitzes der KRP im Vantaaer Stadtteil Jokiniemi, unweit von Helsinki. Johanna blickte auf den grauen Kiefernwald vor ihrem Fenster und setzte frustriert den Kopfhörer ab. Sie war von Anfang an bei diesem Fall dabei gewesen, er lastete schwer auf ihren Schultern. Dabei inspirierte es sie normalerweise, wenn sie gefordert war, es allen zu zeigen, dann brachte sie die besten Leistungen zustande. Sie hatte das Gefühl, nur dann voll am Leben zu sein, wenn sie bei der Arbeit mit einer echten Herausforderung zu kämpfen hatte. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, in ihren Ermittlungen auf der Stelle zu treten - vom Privatleben ganz zu schweigen. Eine feste Beziehung war weit und breit nicht in Sicht, ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie tatsächlich eine wollte. War das allein nicht schon Besorgnis erregend?
Axel Navarro von der Stockholmer Polizei hatte ihr mitgeteilt, dass sie Radovan Jankovic nicht im Register hatten. Sie konnten lediglich die Grundangaben ausfindig machen, die der Serbe zwei Jahre zuvor bei der Übersiedlung nach Schweden gemacht hatte. Von Beruf war der Mann Offizier gewesen, wo er aber eventuell gearbeitet hatte, musste bei der Steuerbehörde erfragt werden.
Es klopfte an der Tür. Heino »Hedu« Wikman trat ein, in seiner ewigen grauen Jacke und seinen schlabbrigen Jeans, die dringend einer Wäsche bedurft hätten.
»Der Laden von Korhonen hat Nachschub geliefert«, sagte Hedu und legte einen Stoß Papier auf Johannas Schreibtisch.
Johanna seufzte und blätterte die Unterlagen durch. Es waren Kopien von gut einem Jahr alten Zeitungsmeldungen, die von der Festnahme von Oberst Jankovic in Serbien berichteten. Jener Korhonen, den Hedu erwähnt hatte, war Leiter der Abteilung für Internationales Recht im Außenministerium und verfolgte die Ermittlungen im vorliegenden Fall genau. Das Gleiche tat die Abteilung für Gefängniswesen im Justizministerium, die für die Erfüllung der in Den Haag gefällten Urteile in Finnland zuständig war. Das finnische Parlament hatte 1994 ein Gesetz zur Rechtshilfe gegenüber dem UNTribunal verabschiedet, und 1997 war eine Vereinbarung über die Aufnahme von Verurteilten in Finnland getroffen worden. Oberst Jankovic war der vierte Häftling, der von Den Haag nach Finnland geschickt worden war. Einige europäische
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