Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Krankenhaus-Schlafanzug wie ein gewöhnlicher Patient aus, aber sein Gesichtsausdruck, vor allem der Blick seiner Augen, sagte mehr. Sogar in dieser Umgebung strahlte der Oberst eine besondere Energie aus: still, gnadenlos, Furcht erregend. Nachdem er seine Medikamente bekommen hatte, war er zur Beobachtung stationär aufgenommen worden.
»Warum habt ihr ihn umgebracht?«, fragte er heiser auf Englisch. »Sie kennen die Antwort selbst«, erwiderte Johanna. »Wer war er?« Der Oberst schwieg eine Weile.
»Mein Sohn«, sagte er schließlich leise.
»Mein Beileid«, entgegnete Johanna. Sie hatte unweigerlich Mitleid mit dem Mann, obwohl es keinen Anlass gab, die nackten Tatsachen zu vergessen. »Das ist eine Tragödie für alle Beteiligten. Auch für die Geisel. Eine Tragödie, die ohne Ihren Sohn nicht entstanden wäre. Wer war der andere Mann, der versuchte, Sie zu befreien?«
Der Oberst wurde aufmerksam. »War? Habt ihr ihn auch umgebracht?« »Nein. Niemand hat ihn getötet.« »Wo ist er?«
Johanna antwortete nicht, sondern ließ Stille einkehren. »Wer ist er?«, fragte sie nach einiger Zeit noch einmal. »Ich weiß es nicht.« So, so, dachte Johanna. Ihr war klar, dass sie keinen weiteren Namen aus dem Oberst herausbekommen würde.
»Radovans Leiche muss nach Serbien überführt werden«, sagte der Oberst, als würde er einem Untergebenen einen Befehl erteilen. »Ins Familiengrab.«
9
Zwei Jugendliche, denen der Schritt ihrer Hiphop-Hosen in den Kniekehlen hing, gingen durch die mit Graffiti beschmierte Fußgängerunterführung bei der U-Bahn-Station Högdalen im Süden von Stockholm. Sie grinsten sich an, als ihnen ein einsamer Mann im schwachen Licht der wenigen unbeschädigten Lampen entgegenkam. Und dann traten sie ihm in den Weg. »Hey, haste ma 'ne Kippe?« Den Jungen begegnete ein wütender Blick. Das verunsicherte sie. »Verpisst euch«, knurrte der Mann und stieß die beiden unwirsch zur Seite.
Vasa bemühte sich, seine Erregung im Zaum zu halten. Am liebsten hätte er seinen Zorn und seine Trauer an den Jungen ausgelassen, aber einen Aufsehen erregenden Zwischenfall konnte er sich jetzt nicht leisten. Er stieg die Treppe der Unterführung hinauf und ging in Richtung Önskehemsgatan, wo sich Radovans Wohnung befand. Seine Hand tastete nach dem Mobiltelefon in seiner Tasche. Den ganzen Nachmittag hatte er versucht, der Verlockung zu widerstehen, aber jetzt gelang es ihm nicht mehr. Er musste es wissen.
Vasa drückte sich in einen Hauseingang und wählte mit pochendem Herzen die Nummer des Gefängnisses in Riihimäki, so wie schon viele Male zuvor. Er räusperte sich und bemühte sich, eine entspannte Haltung einzunehmen.
Dem Justizbeamten, der sich meldete, nannte er seinen Namen. Am anderen Ende der Leitung kehrte für einen Moment Stille ein. »Wait!«, sagte der Beamte kurz.
Man hörte ein Knacken in der Leitung, dann nur noch ein Rauschen. Vasas Herz schlug immer heftiger. Würden sie seinen Vater ans Telefon holen oder jemand anderen ... den Pfarrer womöglich?
»Hallo«, meldete sich eine selbstsichere Männerstimme. »Wer ist da?«
»Hier ist Vasa Jankovic. Ich möchte mit Oberst Jankovic sprechen. Wer sind Sie?«
»Ich bin Gefängnisdirektor Laine.«
»Was soll das?«, fragte Vasa. »Ich will mit meinem Vater sprechen.« »Er ist nicht hier.« »Wieso das? Wo ist er?«
»Kein Grund zur Aufregung. Er ist im Krankenhaus. Leichte Herzbeschwerden.«
»Können Sie mir eine Nummer geben, unter der ich ihn erreichen kann?« Vasa achtete darauf, dass man ihm seine Besorgnis anhörte, immerhin hatte er jetzt auch Anlass dazu.
»Sie sind also der Sohn von Borislav Jankovic ...« Die Stimme des Mannes hatte einen trägen, schleppenden Rhythmus angenommen. Er zog das Gespräch eindeutig in die Länge. Er hatte einen Verdacht. »Von wo rufen Sie an? Könnten Sie hierher nach Riihimäki kommen?«
»Ich lebe in Stockholm. Ist die Lage so ernst?«
»Nein, das habe ich nicht gemeint. Geben Sie mir Ihre Nummer, sie ist nicht auf der Anzeige erschienen. Ich rufe Sie gleich zurück, ich muss nur zuerst ein paar Dinge klären.«
Vasa nannte seine Nummer, dann setzte er seinen Weg fort. Er blickte auf die Uhr. Torna und die anderen Männer würden sich wundern, wohin er verschwunden war.
Die Ereignisse des Vortags gingen ihm unablässig durch den Kopf. Nachdem er seinen Vater im Wald zurückgelassen hatte, war er an die zehn Kilometer durch die Dunkelheit gelaufen, bis er in dem kleinen Dorf
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