Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Grund an den Mann denken, der in einem Kaufhaus die schwedische Außenministerin erstochen hatte. Auch auf den Bildern vom Tatort war ein Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien zu sehen gewesen, dem man kaum zugetraut hätte, eine so sinnlose Bluttat begangen zu haben.
Timo blickte auf und musterte durch das Wagenfenster die Fassade des dreistöckigen Hauses in der Säfflegatan in Farsta. Er steckte das Passbild, das er von Navarro bekommen hatte, in seine Brieftasche und stieg aus dem Wagen. Mit Johanna hatte er vereinbart, dass er Vasa aufsuchte, während sie mit Mila sprechen wollte.
Langsam ging Timo auf das Gebäude zu und sah sich dabei nach allen Seiten um. Die Gegend machte sogar jetzt im Spätherbst einen gefälligen Eindruck. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Platz mit Kopfsteinpflaster und Bänken sowie einem Springbrunnen, der aber bereits für den Winter abgestellt war. Der Platz wurde von lehmroten und ockergelben drei- bis vierstöckigen Häusern aus den 50er Jahren gesäumt, in deren Erdgeschossen freundliche, altmodische Läden untergebracht waren: ein Schuhgeschäft, ein Süßwarenladen, ein Geschäft für Kinderkleider. Trotz des eisigen Windes waren relativ viele Leute auf der Straße. In einer solchen schwedischen Idylle könnte sogar ich mich wohlfühlen, dachte Timo. Alles in nächster Nähe, einfacher Alltag. Ganz anders als die Hektik in Brüssel.
Ein junger Mann mit aufgestelltem Kragen kam mit großen Schritten aus der Haustür. Er telefonierte beim Gehen mit seinem Handy. Als er näher kam, erkannte Timo ihn: Vasa Jankovic. Timo wollte sich schon zu erkennen geben, als ihm etwas auffiel. Der Mann sprach beim Telefonieren nicht Schwedisch. Er sprach auch nicht Serbisch, sondern Englisch - fließendes Englisch ohne bedeutenden Akzent.
Timo handelte intuitiv und ging an dem Mann vorbei, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
»... eine MP5 käme in Frage«, sagte Vasa Jankovic ins Telefon. »Aber so einen Preis zahle ich nicht...«
Mehr konnte Timo nicht hören, allerdings beschleunigte schon der eine Satz seinen Herzschlag. Sogleich sah er Vasa Jankovic mit ganz neuem Ernst; eine MP5 war eine kurzläufige Maschinenpistole von Heckler & Koch, ein zuverlässiges und beliebtes Werkzeug in den Händen von Polizisten wie von Terroristen oder auch gewöhnlichen Kriminellen. Als er um die Ecke gebogen war, blieb Timo stehen und blickte hinter sich. Jankovic stand vor einem älteren blauen Landrover. Er telefonierte noch immer, wobei er sich nach allen Seiten umschaute. Schließlich zog er den Autoschlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Timo hörte, wie der Motor ansprang, und als er sich erneut umblickte, sah er den Landrover eine scharfe 180-Grad-Wendung machen. Mit schnellen Schritten ging Timo zu dem kleinen Peugeot, den er gemietet hatte. Als der Landrover schon fast im Verkehr verschwunden war, fing Timo an zu rennen. Er startete den Wagen, machte ebenfalls eine Wendung um 180 Grad und hoffte, den auffälligen Geländewagen bald wieder in den Blick zu bekommen.
An der ersten Kreuzung war der Wagen nicht zu sehen. War ihm eine Fehleinschätzung unterlaufen?, fragte sich Timo. Vielleicht hatte Jankovic von der Paint-Ball-Version der MP5 gesprochen. Schließlich gab es erwachsene Männer, die mit so etwas spielten.
Timo schaute nach vorn die Straße entlang, die nun vierspurig wurde. Nebeneinander standen die Autoschlangen an der nächsten roten Ampel. Timo beschleunigte kurz und wechselte auf die linke Spur, die lichter zu sein schien. Im selben Augenblick sprang die Ampel auf Gelb. Timo gab weiter Gas, der Tacho zeigte achtzig Stundenkilometer, der bejahrte, weißhaarige Fahrer eines Volvo Amazon warf ihm einen grimmigen Blick zu, als Timo ihn überholte. Nach der Ampel nahm Timo den Fuß vom Gas und hielt nach dem Landrover Ausschau. Tatsächlich erkannte er ihn in der rechten Wagenschlange an zweiter Stelle. Jankovics Geländewagen lavierte mit abrupten Tempowechseln durch den Stockholmer Verkehr: schnelle Beschleunigungen, plötzliche Spurwechsel und Abbiegen in letzter Sekunde. Vor den Ampeln verlangsamte Jankovic das Tempo und gab in dem Moment Vollgas, in dem die Ampel auf Rot umsprang. Timo hatte alle Mühe, an ihm dranzubleiben. Und das war kein Zufall. Genau darauf war Jankovic aus: eventuelle Verfolger abzuschütteln. Eine andere Erklärung für den wechselhaften Fahrstil hatte Timo nicht, das Ganze sah aus wie aus einem Lehrfilm der Kriminalpolizei über
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