Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Beschattung. Was veranlasste Jankovic, so vorsichtig zu sein?
Den Mann über Navarro beschatten zu lassen hätte Arbeit, Qual und extreme Bürokratie verlangt, so knapp wie die Ressourcen der Stockholmer Polizei waren. Eine einzige MP5 wäre bei der Prozedur kaum ins Gewicht gefallen.
Nach dem Slalom und den Tempowechseln im Innenstadtverkehr gelangte Jankovic ins ruhigere Gewerbegebiet Johanneshov. Timo ließ sich zurückfallen. Der gemächlichere Verkehr wurde durch Lastwagen kompensiert, hinter denen man gut in Deckung bleiben konnte. Auf einmal trat Timo abrupt auf die Bremse. Der Geländewagen war nicht mehr auf der Straße zu sehen, er musste irgendwo abgebogen sein, in eine Zufahrt zu einer der Fabriken, Gewerbehallen oder Werkstätten. Timo wendete und fuhr langsam zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Dann sah er den Landrover neben einer Reifenhalle stehen.
Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Bootshandel. Timo fuhr auf dessen Kundenparkplatz und ging zu Fuß hinüber zur Reifenhalle, die mit einem Ersatzteilhandel verbunden zu sein schien. Dazwischen war eine Nische. Nachdem er sich versichert hatte, von niemandem gesehen zu werden, schlüpfte er in den Schatten der Nische. Ob es hier weitere Freunde der MP5 gab?
Timo stellte fest, dass die Nische eigentlich ein Gang war, der sich ins Dunkle hinein fortsetzte. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass er auf diesem Weg bis ans andere Ende kam. Die Gebäude waren also gar nicht miteinander verbunden, wie es von weitem ausgesehen hatte, sondern durch diesen etwa ein Meter breiten Gang getrennt.
Ein schweres, gedämpftes Stampfen veranlasste Timo, auf die Straße zu blicken. Er sah einen hellgrünen Sportwagen mit hohem Tempo auf den Hof der Halle fahren. Zuerst erkannte er die Marke nicht, aber dann sah er das Chrysler-Emblem. Kaum war der Motor aus, erfüllte die stampfende Musik die ganze Umgebung. Dann wurde es auf einen Schlag still. Der Fahrer stieg aus, und Timo wurde um einen weiteren Grad aufmerksamer. Zwar war der Mann gekleidet wie ein westlicher Popsänger, der sämtliche Stile seit den 80er Jahren in sich vereinigte, aber seine Gesichtszüge verrieten, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach vom Balkan stammte.
Noch immer neben dem Wagen stehend, steckte sich der Mann Ohrhörer in die Ohren und bediente anschließend ein kleines Gerät, das Timo als iPod identifizierte.
Gleich darauf fing der Mann an, seltsame Bewegungen zu vollführen. Mit geschlossenen Augen und weißen Knöpfen im Ohr zuckte er zuerst vorsichtig und dann immer rhythmischer hin und her; er schüttelte die Schultern, und die Hüftbewegungen wurden wilder. Als er dann noch Schritte zur Seite und nach vorne machte, hatte es endgültig den Anschein, als übte er vor einem imaginären Publikum einen Showauftritt. Timo sah der Aufführung ungläubig und trotz der Situation mit einer solchen Belustigung zu, dass es ihm schwerfiel, nicht laut zu lachen: Ja, ja, die Schweden waren seit ewigen Zeiten im Musikgeschäft erfolgreich, aber das war nun doch zu viel. Vielleicht sollte er lieber so bald wie möglich nach Brüssel verschwinden.
Wie auf Knopfdruck brach der Mann seinen Tanz "ab, als ein weiteres Auto auf den Hof fuhr, mit ebenso heftigen Lenkbewegungen wie kurz zuvor der Chrysler. Es beschleunigte sogar noch, bis man die Bremsen quietschen hörte und das Fahrzeug nur einen Meter vor dem erschrockenen Showstar zum Stehen kam. Sogleich erfüllte das gesamte Spektrum des schwedischen Schimpfwortschatzes den Hof. Ein jüngerer Mann mit Kapuzenjacke stieg auf der Fahrerseite aus. Er hatte dunkle Haare, und seine Nase zierte ein weißer Verband. Auf der Beifahrerseite entstieg dem Wagen ein ziemlich großer und dünner pockennarbiger Mann, in dessen gegelten Haaren ein kerzengerader Scheitel zu erkennen war. Beide trugen ein gleich breites Grinsen auf dem Gesicht.
»Stanko, hast du gehört, dass die Amerikaner schon vorab eine Riesenmenge von Slobos Demo-CD bestellt haben?«, hörte Timo den jüngeren der beiden zu seinem pockennarbigen Kumpel sagen. »Rate mal, warum!«, fuhr der Jüngere fort und gab selbst die Antwort: »Die CIA will für ihre geheimen Gefängnisse Foltermaterial, mit dem sie in den Verhören die allerhärtesten Jungs weich bekommt...« Der Showstar war überhaupt nicht amüsiert, sondern richtete einen blitzschnellen Tritt gegen das Gesicht des Witzbolds, in dem auf einen Schlag die Miene umsprang,
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