RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
automatisch, ohne Gedanken oder Abwägen, doch manchmal sieht sie mich verblüfft und vielleicht auch dankbar an, wie ich glaube; manch mal bin ich mir nicht sicher ; wo sie ist.
Gerüchte g eistern um die Latrinen. Mehr Sti m men murmeln jetzt: „ Es wird eine gro ss e Selektion ge ben.“ [20]
W ir sind nicht sicher. Wir sind nie sicher. Wir sind gerade für einen Tag dem Tod entkommen, was wird morgen sein?
Ein M ädchen bei den Latrinen fragt: „ Erinnerst du dich noch an das Sonderkommando, das letzte Woche ausgewählt wurde?“
Ich sehe sie mi ss trauisch an und frage mich, was sie wei ss , wieviel B rot sie von mir erpressen wird, u m mir ihr Still schweigen zu erkaufen.
„Ich glaube schon“ , lüge ich ihr ins Gesicht.
„ Ich habe von einer, die im Krankenhaus arbeitet, gehört, da ss es dabei um Sterilisation und Schockbehandlungen ging. Er nahm die Hälfte der Mädchen und legte ihnen hei ss e Platten auf den Magen, um Elekroschocks in ihren Bauch zu schicken, einen nach dem anderen, bis sie ohnmächtig wurden. Wenn sie wieder zu sich kamen, fuhr er damit fort, solange, bis sie tot wa ren.“ Ich fühl e mich schwach und schwindlig. „ Die ande ren schnitt er auf, um ihnen ihre Geschlechtsorgane heraus zu nehmen. Manche sterben jetzt an einer Infektion. Die Glückli cheren sind schon tot.“ Ich wende mich ab von der Stimme der Fremden, weil mir das Blut aus dem Gesicht weicht.
„ Was ist los, Rena? “ Danka taucht hinter mir auf.
„ Nichts, Danka, nichts. Ich werde wohl Hunger haben. “ Ich gehe zurück in unseren Block.
„Du bist doch nicht etwa krank?“ Ich schüttle den Kopf. Sie beobachtet mich besorgt.
Ich spüre einen Druck auf meinen Augen, der nach Erleich terung schreit. Ich weine nicht. Zum Weinen braucht man Zeit, und Zeit haben wir nicht. Ich suche krampfhaft nach ei n er vernünftigen Erklärung, aber hier gibt es keine Vernunft. Was haben sie gemacht, als sie dahinterkamen, da ss im Ver suchskommando drei Nummern fehl ten? Hat die Frau, die ih re Cousine oder Schwester aus der Reihe geholt hat, einfach jemand anderen an ihre Stelle gesetzt? Warum haben sie nicht nachgeforscht? - sie hatten doch unsere Nummern auf ihrer Liste. Warum leben wir, und die anderen Mäd chen, die mit ausgewäh l t wurden, nicht? Wird je eine Zeit kommen, wo wir Gott einfach dafür danken können, heute am Leben zu sein, ohne dasselbe Privileg für den nächsten Tag, den über näch sten, erbit ten zu müssen? Is t Leben ein Privileg oder ein Fluch?
Die Gerüchte über die gro ss e Selektion werden lau ter. Mir geht alles M ögliche durch den Kopf. Als wären wir nie in Mengeles Fängen gewesen, mache ich mir wieder Sorgen um Dankas Verletzung. Die Narbe ist nicht so schlimm wie vor ein paar Wochen, aber sie ist noch immer so rot, da ss sie die scharfen Augen der Se lektionso ffiziere der SS auf sich ziehen wird.
„Morgen“, flüstert mir eine Stimme zu. Ic h gebe die Inf or mation in der Reihe weiter. Das ist unsere Art, Nachrichten weiterzureichen, derselbe We g, auf dem wir uns Ziegel zuwer fen, von einer zur nächsten. Für gewöhnlich geschieht dies, wenn wir uns für die Suppe anstell en oder aufs Abendbrot warten. „ Morgen. “
Ich nehme mein Brot und wende mich an Dan ka. „Ich gehe nach drau ss en.“
„Weswegen?“
„Für irgend etwas, das ic h finden kann. “ Ich bin irritiert. Sie kann nichts dafür. Wir sind beide nervös, müde von der Anstrengung, immer das Äu ss erste geben zu müssen. Ich mu ss den Boden absuchen, ich mu ss etwas anderes tun als immer nur daran denken, da ss diese Nacht meine letzte Nacht auf Erden sein könnte. Als ich an der Küche vorbei gehe, suche ic h den Boden nach Kartoffelstü cken oder sonst irgendetwas E ss barem ab. Ich wünschte, wir h ätten vor der Selektion noch et was zusätzlich zu essen. Au ss er Nahrung wei ss ich nic ht, was ich su chen soll, und heute A b end sind mir die Ratten oder an dere Gefangene bei den Häppchen, die womög lich hier herum lagen, schon zuvorgekommen. Sehr zu meiner Überraschung streckt sich m ir aus dem Schmutz ein hellblau-rotes Einwickelpapier mir der Aufschrift „ Zichorie “ entgegen. Einen Augenblick lang starre ich es an , weil ich mi ch einfach über dieses vertrau- te Etikett freue und über die Erinnerung, die es wachruft. Ich hebe es auf, um meine Nase in das Papier zu stecken, und mich vom Duft entführen zu lassen.
„ Rena, spiel nicht damit herum, deine Finger wer den sonst rot“ ,
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