RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
nur eine Nummer. Nachdem ich so lange eine Nummer ge wesen bin, ist das entmutigend, und ich mu ss mich daran erin nern, da ss man der SS nicht trauen darf. Binnen einer Sekunde könnte sie ihre Meinung über mich ändern. Sie hat die Macht über Leben oder Tod.
Ich beginne mit meinem Bericht. „Wir hängen die Wäsche wegen der frischen Luft jeden Tag, bei Regen, Sonnenschein oder Schnee hinaus.“
„Jah?“
„Hinter der SS-Küche gibt es ein Vordach. Ich kann von dort aus den ganzen Trockenplatz überschauen. Würden Sie uns bitte erlauben, uns bei schlechtem Wetter unter das Vor dach zu stellen?“
„Ja, das könnt ihr.“ Sie entlä ss t mich. Ich atme erleichtert auf. Ich überbringe Danka und Dina die gute Nachricht - wir haben ein Dach. Gerade rechtzeitig. Der Winter ist gekom men.
Wie seltsam es auch sein mag, nach all meinen Hoffnungen, eine Arbeit drinnen zu finden, nun doch im Freien zu stehen, bin ich doch ganz einfach dankbar, mit meiner Schwester von Birkenau weg zu sein und noch zu leben.
Am ersten Regentag nach meiner Anfrage stehen wir den ganzen Tag unter dem Vordach. Manchmal stütze ich meine Hände auf das Geländer und lasse meine Augen über die Fel der wandern, wo es keine Zäune gibt. Ein Zug fährt in der Feme vorbei. Ich achte darauf, mit keinem in der Küche Kon takt zu knüpfen. Das ist mein erster Tag, an dem ich die Ve randa als Unterschlupf benütze, und da ich dieses Privileg nicht verlieren will, halte ich mich zurück und hänge meinen Gedanken nach.
Als wir am nächsten Tag die Wäsche vom Trockenplatz zurückbringen, landet ein Stein vor unseren Fü ss en. „Tauscht die Plätze“, flüstere ich. Danka und Dina halten an. Wir stel len die Körbe auf den Boden und nehmen geschickt die Nach richt an uns.
Ungeduldig warte ich bis zum Ende des Appells, um die Nachricht lesen zu können. Danka lugt mir über die Schulter, als ich das Papier anschaue, aber dort stehen keine Worte - es ist eine Bleistift-Zeichnung. Uns ist ein wenig schwindelig da von, und ich fühle mich geschmeichelt, da ss jemand sich die Zeit nimmt, mich zu skizzieren: Ich beuge mich nach vorne, und mein Rock ist ein wenig zu hoch über die Rundung mei ner Beine gerutscht.
„Rutscht mein Rock so weit hoch?“, frage ich Danka.
„Nein, Rena, tut er nicht.“ Wir kichern.
„Er macht meine Beine auch hübscher als sie sind!“ Ich wünschte, ich könnte die Zeichnung aufhängen oder an einem sicheren Ort verstecken, aber es gibt nichts, wo sie sicher genug wäre. Sie ist au ss erdem signiert: Stasiu Artista. Au ss erdem hat er in die Ecke geschrieben: „Wenn du morgen am Fenster vorbeigehst, lehne dich ein wenig zurück und geh langsamer. Ich werde dir dann etwas zuwerfen.“
Am nächsten Tag machen wir vor der Küche Halt, und Di na und Danka tauschen ihre Plätze, während ich eifrig die Kleidungsstücke ordne. Reibungslos wie bei einem Uhrwerk landet das Päckchen in der Unterwäsche. Ich decke es zu, und wir nehmen die Körbe hoch, ohne uns umzublicken.
Nach dem Appell stellen wir fest, da ss das Päckchen, das Stasiu geschickt hat, eine Tüte Zucker ist. „La ss es uns auftei len“, schlägt Danka vor. Dina und ich nicken zustimmend; das ist zu kostbar, um es selbstsüchtig zu horten. Flüsternd infor mieren wir zwanzig unserer nächsten Freundinnen, sich bei unserem Bett einzufinden, wenn die anderen alle schlafen.
„Wir haben eine Überraschung für euch“, erzählen wir ih nen. „Bringt eure Löffel.“
Die Tüte Zucker im Scho ss , sitze ich auf meinem Bett, neh me den Löffel des Mädchens, das vorne in der Reihe steht, streiche den Zucker darauf sorgfältig glatt, damit jeder wirk lich die gleiche Menge bekommt. Als die Tüte aufgebraucht ist, ruhen wir uns in unseren Betten aus und lecken unsere Lö ss el immer und immer wieder ab, um auch das letzte Körn chen dieser leckeren Sü ss e herauszuholen.
Wir haben Schneeregen. Inzwischen freue ich mich auf un freundliches Wetter, denn dann kann ich mich mit Stasiu Arti sta, meinem neuen Freund, unterhalten. Manchmal ist mir nach einem Gespräch unter vier Augen zumute. Einem wirkli chen Gespräch, ausführlich und ohne Gefahr. Es ist dumm, sich nach etwas Unmöglichem zu sehnen, aber ich vermisse die Tage, als ich flirten und mit einem Verehrer die Stra ss e entlang gehen konnte, und wir einfach aussprachen, was uns bewegte. Das sollte kein Verbrechen sein, ist es aber.
„Wie hat dir das Bild gefallen?“, erkundigt Stasiu
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